Das Herz
und versuchte, sich einen Reim auf ein so riesiges Loch in der Erde zu machen. Wie konnte seine Familie schon seit Generationen hier herrschen und so wenig über diesen Ort wissen? Oder war er, der immer in seinem eigenen Unglück geschmort und nichts mitbekommen hatte, der einzige Unwissende?
»Werter Herr?«, fragte jemand. Das war eine sorgsam gewählte Qar-Anrede — sie bezeichnete weniger einen Anführer oder Höhergestellten als vielmehr einen Fremden, dessen Status man noch nicht kannte. Barrick drehte sich um und sah da drei Kobolde stehen, die ihn mit ernsten, leuchtenden Augen anblickten.
»Ja?«
»Wir waren in den Seitengängen, wie's uns die Königin in Weiß befohlen hatte. Und dort haben wir einen Mann gerochen. Einen Menschenmann.«
Einen Moment lang dachte er, es sei eine verkappte Beleidigung, eine Aufforderung zu baden vielleicht: Die Qar hielten weit mehr auf Reinlichkeit als Barricks eigene Leute, das hatte er schon bemerkt. »Einen Mann ...?«
»Ja, Herr. Einen wie Euch, aber anders.« Die Kobolde stießen sich gegenseitig in die Rippen und funkelten einander an, dann versuchte es der, den sie zum Sprecher auserkoren hatten, noch einmal: »Älter. Ein bisschen kleiner. Könnt Ihr kommen und ihn Euch ansehen?«
Barrick folgte ihnen vom Rand des riesigen Abgrunds weg. »Was habt ihr mit ihm gemacht? Ist er ein Gefangener?«
Die Kobolde sahen schockiert drein. »Nein, Herr!«, sagte der Sprecher. »Wir würden nichts tun ohne Euer Geheiß ...«
»Die Königin war beschäftigt«, sagte einer der anderen, was ihm einen finsteren Blick seitens des Sprechers eintrug. »Und vor der dunklen Fürstin fürchten wir uns.«
»Still, Dummkopf«, knurrte die Dritte im Bunde, wenn auch nicht klar war, mit wem sie sprach. Nur das gewisperte Wissen der Feuerblume ermöglichte es Barrick, männliche und weibliche Kobolde zu unterscheiden.
Sie führten ihn auf einem gewundenen Pfad durch die Qar-Krieger, bis sie kurz hinterm Lager waren. Hier am Rand, wo die Fackeln nur schwach hinleuchteten und die Schatten lang waren, musste Barrick daran denken, wie wenig er von der Sonne gesehen hatte, seit er zu diesem aus der Bahn geratenen Abenteuer aufgebrochen war.
Ich hätte unter freiem Himmel bleiben sollen, solange ich konnte ...
In seine Gedanken brach plötzlich eine Erinnerung ein: Briony und er als Kinder, wie sie über einen sonnenhellen Hang auf M'Helansfels rannten, knietief in weißem Mädesüß, während drunten die Brandung donnerte und rauschte. Es war so schmerzhaft wie ein Dolchstoß, ein kalter Stich ins Herz. Er fühlte, wie ein Schwarm Feuerblumenerinnerungen dieses Bild zudeckte, als ob Schmetterlinge sich dicht an dicht auf einem Busch niederließen, doch ganz kurz war da ein Zweifel: Hielt die Feuerblume irgendwie Dinge von ihm fern? Schottete sie ihn von seinem eigenen Leben ab?
Gleich darauf verflogen diese Gedanken, als eine weitere Gruppe barfüßiger Koboldsoldaten erschien, mindestens ein halbes Dutzend, die mit ihren schlanken, spitzen Speeren zaghaft einen Mann vor sich hertrieben, der doppelt so groß war wie sie. Im ersten Moment dachte Barrick, es sei vielleicht ein versprengter Xixier, doch das Gesicht des Mannes war so hell wie sein eigenes.
Barrick starrte den Mann an. Der Mann starrte zurück.
»Mein Prinz ...?«, sagte der Mann schließlich. »Ist das ... seid Ihr ...? Seid Ihr's wirklich, Prinz Barrick?«
Bei Barrick dauerte es länger, bis er sich erinnerte. »Chaven«, sagte er schließlich laut. Seine Stimme war rauh und eingerostet, weil er sie so selten benutzte. »Was macht Ihr hier, Hofarzt?«
»Prinz Barrick — Ihr
seid
es!« Der Mann starrte ihn an, als wäre er eben erst aufgewacht; dann, als ob etwas in ihm verrutscht wäre und seine Gefühle jetzt freie Bahn hätten, stürzte er mit ausgebreiteten Armen auf Barrick zu. Barrick wich einen Schritt zurück. »Aber Ihr seid ja so groß, Hoheit!«, sagte Chaven. »Ach, es ist ja auch fast ein Jahr her ...« Er schüttelte den Kopf »Was rede ich da! Wie kommt Ihr hierher? Wie habt Ihr den Krieg gegen die Zwielichtler überlebt?« Er deutete auf die Kobolde, die das Ganze mit tiefem Argwohn verfolgten. »Seid Ihr ihr Gefangener? Nein, Ihr habt sie irgendwie zu
Euren
Gefangenen gemacht ...«
Barrick verlor allmählich die Geduld mit diesem korpulenten kleinen Mann, der nicht aufhörte zu reden. »Ich habe Euch gefragt, was Ihr hier macht. Ihr befindet Euch mitten in einem Qar-Lager, und wir stehen im Krieg.
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