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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Kendricks Tod, aber bevor alles so schrecklich aus dem Ruder gelaufen war. Da hatte er Briony und ihren Bruder in seine Gemächer bestellt. Es war derselbe Abend gewesen, an dem Finn Teodorus Brones Pläne zur Gefangennahme und Auslöschung ihrer Familie gelesen hatte, aber das war es nicht, was jetzt in ihrer Erinnerung auftauchte.
    Vaters Brief ...
Eine Seite dieses Briefs war gestohlen worden, und in jener Nacht hatte Brone sie ihnen zurückgegeben. Er hatte erklärt, er habe sie zwischen seinen Papieren gefunden, wisse aber nicht, wie sie dorthin gekommen sei. Inzwischen zweifelte Briony an seiner Unschuld, aber was sie jetzt beschäftigte, war der Brief selbst. Darin hatte etwas von den Kanälen der Hauptburg gestanden, die Olin im Belagerungsfall für einen Schwachpunkt hielt. Konnte ihr das jetzt helfen?
    Ihr sank der Mut, als ihr wieder einfiel, dass Brone das Problem gelöst hatte: Er hatte die Kanäle mit schweren Eisengittern abdecken lassen, deren Öffnungen so klein waren, dass nicht einmal das dünnste Kind oder der glitschigste Skimmer hindurchzuschlüpfen vermochte. Die Skimmer hatten ja sogar erst vor Stunden beteuert, dass es für sie keine Möglichkeit gebe, in die Hauptburg zu gelangen. Ihr geliebter Vater hatte ihr unwissentlich die einzige Chance genommen, seinen Thron zu retten.
    Da kam ihr eine andere Idee — die Sorte verrückter Einfall, die Eneas mit skeptischem Stirnrunzeln aufnehmen würde, aber der Gedanke an die Skimmer hatte sie darauf gebracht, und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer schien, dass sie es versuchen musste.
    Sie wandte sich so jäh vom Tor ab, dass sie einen der syanesischen Reiter anrempelte, der sofort aufs Knie fiel und sich wortreich entschuldigte. »Lasst das«, sagte sie. »Wie heißt Ihr?«
    »Stephanas, Hoheit.« Wie die anderen wich auch er ihrem Blick aus. Das irritierte sie.
    »Gut. Geht und sucht Euch ein halbes Dutzend wackerer Kameraden zusammen, sagt ihnen, sie sollen sich alle kleiden wie gewöhnliche Leute — in den verlassenen Häusern gibt es sicher genügend Kleidungsstücke. Dann seid mit ihnen in einer Stunde wieder hier.«
    »Kleidungsstücke ...? Häuser ...?«
    »O guter Stephanas, ich hoffe, das Problem ist meine Aussprache und nicht euer Verstand. Ja, kleidet euch wie gemeine Stadtbewohner — aber gürtet euch eure Schwerter um. In der Zwischenzeit werde ich Eurem Herrn, dem Prinzen, sagen, dass ich Euch losschicke, um eine Kleinigkeit zu erledigen.«

    Den Tempel umging Chert sorgsam, nicht so sehr aus Angst, wieder auf seinen Bruder oder Bruder Nickel zu treffen — jedenfalls sagte er sich das —, als vielmehr, weil er keine Zeit für Konversation hatte und schon gar nicht für die engstirnige Meckerei, mit der die Hüter des Tempels zweifellos aufwarten würden. Also schlich er sich durch die ausgedehnten Pilzgärten vor dem Tempel und dann auf der Küchenseite um diesen herum, wobei ihn die Gerüche aus dem Mälzhaus und insbesondere der Rauch der Darrfeuer, über denen auch in diesen schrecklichen Zeiten noch das Braumoos getrocknet wurde, mit Wehmut erfüllten. Wann hatte er das letzte Mal einfach nur dagesessen und mit Freunden ein schönes Moosbräu getrunken? Wann hatte er zum letzten Mal irgendetwas anderes getan, als für das Überleben seiner Familie zu sorgen und Vansen und den anderen diesen schrecklichen Krieg führen zu helfen? So sollte ein Mann nicht leben müssen.
    Aber wenn Götter und Halbgötter kämpfen,
rief Chert sich ins Bewusstsein,
kann ein gewöhnlicher Mann von Glück sagen, wenn er überhaupt noch lebt.
Er sprach ein Gebet zu den Alten der Erde und marschierte dann durch das Gelände hinterm Tempel in Richtung Kaskadentreppe.
    Er brauchte fast den ganzen Vormittag für den langen, gewundenen Weg hinauf zum Seidentor und den Randgebieten von Funderlingsstadt. Die Straßen waren fast völlig verlassen. Auf der breiten Erzstraße sah er keinen einzigen Steinhauer von der Arbeit in den äußeren Gängen zurückkehren; er sah keine Frauen auf dem Rückweg von den Wäschetrockenkavernen, keine Höker mit Handkarren auf der Jagd nach einem letzten Kunden vor dem Mittagsmahl. Hatten all seine Nachbarn wirklich solche Angst? Das schien Chert seltsam, da das Kampfgeschehen doch so weit weg war.
    Am Salzsee blieb er stehen und blickte sich um, aber da war niemand, nicht einmal Block, und allmählich fragte er sich, ob er wirklich durch Funderlingsstadt gehen sollte. Was war hier los? Wie ihm Opalia erzählt

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