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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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jede Entscheidung eines Monarchen für irgendjemanden Leid bedeutete. »Bitte seid so gut und lasst mich kurz über dieses Problem nachdenken«, sagte sie, als Helkis wieder zum Sprechen ansetzte.
    »Möchtet Ihr einen Moment allein sein?«, fragte Eneas.
    »Genau das möchte ich, ja, Hoheit«, sagte sie dankbar. »Aber ich will Euch nicht aus Euren Räumen vertreiben. Ich werde ein paar Schritte gehen.«
    »Aber nicht das Grundstück verlassen ...!«
    »Natürlich nicht, Prinz Eneas. Ihr habt mein Wort.«
    Als sie auf der Treppe an den Wachen und anderen Soldaten vorbeiging, irritierte sie wieder einmal deren Verhalten — nicht, weil sie ihr so beflissen Platz machten, als wollten sie sich am liebsten in Luft auflösen, an diese Art Ehrerbietung war sie als Königskind von klein auf gewöhnt, nein, weil sie es so konsequent vermieden, sie anzusehen. Das war etwas Neues. Früher hatten nur diejenigen weggeschaut, die besonders ängstlich waren oder ein besonders schlechtes Gewissen hatten, und seit Briony sich zur jungen Frau entwickelt hatte, war sie es gewöhnt, dass Männer sie mit der selbstverständlichen Unverschämtheit von Pferdehändlern taxierten. Was also hatte sich geändert?
    Das sind Eneas' Männer,
ging ihr
auf. Und sie glauben, ich gehöre ihrem Prinzen.
    Diese Erkenntnis verwirrte sie mehr, als sie wahrhaben wollte.
    Unten angelangt, ging sie durch den überfüllten Hof in Richtung Tor. Der Besitzer des Hauses war ein reicher Mann gewesen — Briony meinte, ihm ein paarmal bei höfischen Anlässen begegnet zu sein, wenn sie sich auch an das Gesicht nicht erinnern konnte —, und das Anwesen bot mehr als genug Platz für Eneas und seinen Offiziersstab. Sie erklomm die Treppe des kleinen Torhauses.
    Zu sehen, was in ihrer Abwesenheit aus dem äußeren Befestigungsring geworden war, hatte etwas von einem Alptraum. Während der kurzen Invasion der Qar hatte er sich fast völlig geleert, und wenn auch nach dem Abzug der Zwielichtler einige wenige Bewohner zurückgekehrt waren, hatten sie sich doch kurz darauf vor dem Beschuss durch die Riesenkanonen des Autarchen wieder in die Hauptburg zurückgeflüchtet.
    Die äußere Befestigungsanlage war einst eine der blühendsten und hübschesten Städte nördlich von Tessis gewesen, wirkte jetzt aber so leblos wie ein Haufen verkohlter Knochen. Ganze Häuser waren zu einem Wirrwarr von Balken und Mauersteinen zusammengestürzt, andere so gründlich abgebrannt, dass nur die Kamine noch wie Grabsteine aufragten. Die höchsten Gebäude waren so gut wie alle zerstört, und die wenigen, die noch standen, waren rußgeschwärzt und verlassen. Briony konnte nicht auf dieses Trümmerfeld blicken, ohne dass ihr die Tränen kamen.
    Aber das hilft dir nicht weiter,
ermahnte sie sich.
Bleib mit den Gedanken bei dem, was du zu tun hast. Konzentriere dich!
    Das Problem war klar. Von hier, der Blankuferstraße, aus konnte sie nicht viel von der alten Mauer der Hauptburg sehen, wenn sie auch deutlich die Türme des Rabentors und die dort ameisenartig umherwimmelnden Soldaten erkannte. Doch die Mauern der Hauptburg waren hoch und nirgendwo leicht zu brechen. Verräter hin oder her — Avin Brone hatte immer tyrannisch darauf bestanden, sie in gutem Zustand zu erhalten und die Tore und Wachtürme ausreichend zu besetzen.
    Briony fragte sich, wo Brone jetzt wohl gerade war und was er wohl täte, wenn er wüsste, dass sie am Leben war. Wie weit ging sein Verrat? Hatte er mit Tolly gemeinsame Sache gemacht oder würde er sie zumindest darin unterstützen, die Burg wieder in Eddon-Besitz zu bringen? Das wäre eine Überlegung wert, falls sie es tatsächlich schafften, in die Hauptburg zu gelangen: Brone ahnte ja nicht, dass Finn Teodorus seine Geheimnisse ausgeplaudert hatte. Er wusste nicht, dass Briony alles über ihn wusste.
    Aber was nützte ihr das, solange sie Brone nicht jenseits der Mauer eine Nachricht zukommen lassen konnte und er sie wirklich unterstützte? Schließlich konnte er sie und Eneas ebenso gut in eine Falle locken. Hatte Tolly ihn irgendwie in der Hand? Das war schwer zu sagen, weil Brone selbst so undurchsichtig war.
»Er ist derjenige, der tut, was ich nicht kann«,
hatte ihr Vater manchmal gesagt, ohne ihr oder ihren Brüdern jemals zu erklären, was er damit meinte. Allmählich dämmerte es Briony.
    Beim Gedanken an Brone und seine listigen Machenschaften fiel ihr etwas ein: ein Abend vor langer, langer Zeit — jedenfalls fühlte es sich jetzt so an —, nach

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