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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hatte, war noch vor einem Tagzehnt die Stadt zwar deutlich leerer gewesen, das Leben aber im Großen und Ganzen normal weitergegangen.
    In einem Seitengässchen der Edelsteinstraße am Rand des Zunfthallenviertels fand er einen Lampenanzünder, der dasaß und schlief. Chert rüttelte ihn wach.
    »Was geht hier vor sich?«, fragte er, als der Bursche Entschuldigungen stammelte. »Leise! Was Ihr gemacht habt, kümmert mich nicht! Was ist hier los? Wo sind alle?«
    Der Lampenanzünder, der jetzt merkte, dass ihm keine unmittelbare Gefahr drohte, winkte Chert, sich neben ihn zu setzen. »Die Frage ist, was
Ihr
hier macht, Kamerad. Habt Ihr eine Genehmigung? Einen Zunft-Passierschein, der besagt, dass Ihr um diese Tageszeit draußen sein dürft?«
    »Wovon redet Ihr?«
    »Seit die Großwüchsigen hier sind — wisst Ihr's denn nicht? Seither darf niemand mehr auf der Straße sein, außer er hat die Genehmigung von der Zunft.«
    »Moment! Die Großwüchsigen?
Welche
Großwüchsigen?«
    Der Mann hatte keine große Lust zu reden, aber er wollte offensichtlich auch nicht, dass Chert eine laute Diskussion vom Zaun brach. Also erklärte er schnell, nachdem die Schiffe der Südländer auf der Bucht in Brand geraten seien (das erste Mal, dass Chert diese erstaunliche Nachricht hörte) und neu aufgetauchte syanesische Soldaten überraschend den äußeren Befestigungsring eingenommen hätten, seien tollytreue Soldaten unter der Führung von Durstin Krey durchs Funderlingstor eingedrungen. Als die Zunftvorsteher und andere Funderlingsführer protestiert hätten, habe man sie in ihrer eigenen Zunfthalle eingesperrt.
    Cherts Plan, einen wohlwollenden Zunftvorsteher zu finden, der ihm zur Durchführung seines Vorhabens den Astion gewähren würde, hatte sich soeben als unendlich viel schwieriger, wenn nicht gar als gänzlich unmöglich erwiesen. Es gab nur einen anderen Weg, sein Ziel zu erreichen, eine Möglichkeit, die er zwar kurz erwogen, dann jedoch als zu gefährlich verworfen hatte. Aber jetzt sah er keine Alternative.
    Während Chert noch diese deprimierende Nachricht verdaute, nutzte der Lampenanzünder die Gelegenheit, sich davonzumachen. Chert unternahm nichts, um ihn aufzuhalten — er war auch so schon beschäftigt genug. Sollte er versuchen, unter seinen eigenen Leuten jemand Vertrauenswürdigen zu finden? Sich durch die Angst und das Misstrauen hindurchzuwühlen, die Durstin Krey und seine Soldatenbande erzeugt hatten? Oder sollte er lieber versuchen, durchs Tor von Funderlingsstadt in die Burg hinaufzukommen und dort vielleicht eine andere, spezielle Art von Hilfe zu finden? Doch selbst wenn er hinausgelangte, war diese zweite Idee immer noch ziemlich abwegig.
    Anscheinend bin ich zum Spezialisten für abwegige Ideen geworden,
sinnierte er.
    Denken war schwer, und Chert war schon viele Stunden gelaufen. Er war hungrig und erschöpft, und wenn er denn sein Leben lassen sollte, befand er, dann lieber jetzt, da er sich ohnehin schon so elend fühlte. Er stand auf und ging so unauffällig wie möglich die Edelsteinstraße entlang. Die steinernen Bäume und ihre kunstvoll gemeißelten Bewohner blickten von der berühmten Decke auf ihn herab, während er sich dem Funderlingstor näherte.
    Das vertraute Tor sah jetzt schon von weitem ganz anders aus. Das Aufgebot an Wachen, deren Zelt und die Barrikaden aus Gesteinstrümmern, die sie errichtet hatten, machten klar, dass es sich hier nicht mehr um einen zeremoniellen Übergang handelte, sondern um einen Kontrollposten, der den Zweck hatte, die einen draußen und die anderen drinnen zu halten.
    Mindestens ein Dutzend Soldaten aus der Burg wachten dort, sorgsam neben dem Durchgang zur Vorburg postiert. Den Grund dieser Vorsicht konnte Chert hören — Kanonenfeuer, die Abstände nicht sehr eng, aber doch eng genug, dass er sich fragte, ob er nicht lieber umdrehen sollte. Aber wer schoss da auf wen? Waren es Xixier, die immer noch den Kampfgeist der Verteidiger zu brechen versuchten? Oder schossen vielleicht ebendiese Verteidiger auf die Xixier oder vielleicht sogar auf irgendwelche Qar, die sich zurückgewagt hatten?
    Es ist Theater,
dachte er.
Aber keine dieser Komödien, von denen mir Chaven erzählt hat, mit verkleideten Prinzessinnen und durchgebrannten Liebespaaren. Das hier ist eins jener großen Desaster-Epen, die ihm so gefallen, mit Gebrüll und blutigen Verbänden und Kesselpauken als Kanonenschüssen. Die Art Geschichte, bei der man immer froh ist, dass sie jemand

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