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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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anderem widerfährt.
    Chert schlich sich etwas näher zum Tor. Trotz der unheilvollen Geräusche von jenseits der Höhlenöffnung kamen die Wachen immer noch der Aufgabe nach, der buntgemischten Schar von Funderlingen, die um Gehör bettelten, den Durchgang zu verwehren.
    »Ich habe euch kleinen Ratten doch
gesagt,
hier kommen nur Zunft-Arbeitstrupps durch«, knurrte ein Soldat, dessen fettglänzendes Gesicht und schlechte Laune darauf hindeuteten, dass er bei seinem Mittagsmahl gestört worden war. »Sonst keiner.«
    »Aber zwei von unseren Leuten sind heute Morgen verletzt von den Arbeiten an der alten Mauer zurückgekommen«, rief ein Mann ganz hinten. »Sie brauchen dort Ersatzleute.«
    »Dann sollen sie heute Abend welche auswählen, wenn sie wieder zurück sind«, erklärte der Soldat mit dem fettigen Gesicht. »Was habt ihr's denn so eilig? Gefällt's euch nicht in Neu-Graylock?« Er lachte und wandte sich seinen Kameraden zu, um sie an dem Witz teilhaben zu lassen. »Neu-Graylock, gut, was?« Er drehte sich wieder zu den Bittstellern um. »Jetzt verpisst euch, oder wir verabreichen euch kleinen Idioten eine Tracht Prügel.«
    Die Funderlinge stöhnten und brummelten, machten aber keine Anstalten, sich zu zerstreuen. Chert war auch nach Stöhnen und Brummeln zumute. Wie sollte er durch diesen Kontrollposten kommen? Das war genauso hoffnungslos, wie einen wohlwollenden Zunftvorsteher zu finden, der noch die Autorität hatte, ihm einen Astion zu überlassen.
    Draußen bellten die Kanonen wieder los. Chert wollte sich gerade an eine sicherere Stelle zurückziehen, um zu überlegen, was er jetzt tun sollte, als plötzlich etwas mit einem so ohrenbetäubenden Donnerschlag die Stirnwand der Höhle erschütterte, dass ihm sein Kesselpaukengedanke von eben kindisch erschien. Die Hälfte des Gesteins über der Toröffnung brach herab, zerquetschte das improvisierte Postenhaus, begrub das Zelt und alles, was noch darin war, unter sich. Trümmer wirbelten durch die Luft, fällten Soldaten und Funderlinge. Die Funderlinge, die nicht allzu schwer verletzt waren, rappelten sich auf und flohen tiefer in die Höhle hinein. Staub hing in der Luft, aber Chert konnte den Soldaten sehen, der eben gesprochen hatte: Blutüberströmt und leise zuckend lag er inmitten von Gesteinsbrocken.
    Jetzt oder nie,
dachte Chert.
Die Alten der Erde haben mir den Weg gewiesen — hoffe ich.
    Natürlich konnte es ebenso gut sein, dass ihm die Alten zeigten, wohin er
nicht
gehen sollte: Die Verwüstung war unglaublich. Der vordere Teil der Torhöhle war ein einziges Chaos aus Gesteinstrümmern und wirbelndem Staub, und draußen krachten noch immer die Kanonen.
    Chert zog den Kopf ein und rannte los, stolperte über Gesteinsschutt. Er musste über einen Leichnam steigen, der unter herabgebrochenem Fels begraben war: Helle Haut, dreck- und blutverschmiert. Er konnte nicht mal erkennen, ob es ein Funderling war oder einer von Durstin Kreys Soldaten.
    Als er ins Freie kam, ließ er den Kopf unten. Die Kanonenkugel hatte das uralte Felskliff über dem Eingang nach Funderlingsstadt getroffen, direkt unter der hohen, hellen Mauer der Hauptburg. Der durch den Einschlag aufgewirbelte Staub war hier draußen fast so dicht wie in der Torhöhle, dennoch schockierte Chert die jähe, unermessliche Weite des Himmels über ihm — das hatte er nicht mehr erlebt, seit er und Flint in dem Dörrschuppen gewesen waren.
    Ich kann nur zu den Alten der Erde beten, dass die Dachlinge ...
    Der Gedanke blieb unvollendet.
    »Da ist er!«, rief eine laute, unbekannte Stimme, dann stieß ihn jemand von hinten zu Boden und riss ihm sein Bündel vom Rücken. »Hab ihn.« Im nächsten Moment, während Chert noch bäuchlings auf den Stein gepresst wurde, stülpte derjenige eine Art Sack über ihn. Es ruckte ein paarmal, als der Sack zurechtgezerrt wurde, dann fand sich Chert hochgehievt und mit schnellem, federndem Schritt davongetragen.
    »Lasst mich los!«, sagte er. »Ihr habt ja keine Ahnung! Ich muss etwas Wichtiges tun — es geht um Leben und Tod ...!«
    »Mund halten«, knurrte der, der ihn gefangen genommen hatte, und ließ den Sack so fest gegen irgendetwas rumsen, dass die Zähne des kleinen Mannes klapperten. Chert sagte nichts mehr.

32

Eine Münze für die Überfahrt
    »Als Zmeos sein Frühstück aus Eiern und Haferbrei verspeist hatte, lehnte er sich zurück. Der Waisenknabe spielte leise auf seiner Flöte, bis der Gott einschlief die mächtige Sonnenscheibe noch

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