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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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immer im Schoß ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    Glücklicher hätte Rafe nicht sein können. Seit heute war er endlich siebzehn und ein vollwertiges Stammesmitglied, und sein Vater, das Oberhaupt der Rumpf-schrammt-Sand-Sippe, hatte ihm die wunderschöne schwarze
Robbe
überlassen. So lange hatte Rafe diesen Tag herbeigesehnt — den Tag, da er sich endlich die Halskette eines Mannes verdienen konnte. Nie mehr würden seine Großtaten dadurch herabgesetzt werden, dass jemand verächtlich sagte: »Er fährt noch im Boot seines Vaters.«
    Einen Namen hatte er sich schon gemacht, nicht nur als Fischer, sondern auch als Krieger. War er nicht unter den Ersten gewesen, die die Südländerschiffe in Brand gesteckt hatten? Hatte er nicht mehr als einmal mit den furchterregenden Frühen zu tun gehabt, ja sich sogar mit dem Boot praktisch vor Fürstin Stachelschweins Tür gewagt, um Transportdienste zum Midlanfels und zurück zu leisten? Jetzt war die
Robbe
endlich sein. All die Jahre hatte er von diesem Tag geträumt, hatte ihren Rumpf immer und immer wieder mit Pech bestrichen, damit sie wasserdicht blieb und so schlüpfrig wie ein Aal. Und das Allerwichtigste: Was er von jetzt an verdiente, würde nicht mehr in den Geldtopf seines Vaters wandern. Er würde seinen eigenen Geldtopf haben und auch bald schon sein eigenes Haus. Dann würde er Ena aus dem Haus dieses Grobians Turley Langfinger wegholen und zu seiner Frau machen. Sobald sie genug Geld hätten, würden sie heiraten, und dann brauchte er nie mehr irgendeine andere Stimme zu hören als ihre und die des Meeres.
    Er glitt durch die geheime Pforte zwischen der Westlagune und dem Seeweg zu Egye-Vars Schulter — M'Helansfels, wie die Landbeiner sagten —, aber Rafe wollte nicht zum Dörrschuppen und auch zu keiner anderen Stelle der Insel. Sippen-Bettgehzeit war schon vor einer Stunde gewesen, und das Letzte, was Rafe brauchen konnte, war Ärger gleich in seiner ersten Nacht als Mann. Er glaubte nicht, dass sein Vater Makrill so weit gehen würde, ihm die
Robbe
wieder wegzunehmen — das wäre ihm peinlich vor seinem Rivalen Turley Langfinger und den Bei-Sonnenuntergang-zurück-Leuten in der Kleinen Schwarmversammlung —, aber eine harte Strafe
würde
er verfügen, und das hieße mit ziemlicher Sicherheit eine Tracht Prügel. Rafe wollte keine weitere Tracht Prügel. Also würde er, auch wenn sein Herz sich anfühlte wie ein windgeblähtes Segel, auf dieser ersten Fahrt mit seinem eigenen Boot nicht über die Stränge schlagen.
    Die Schiffe der Südländer brannten nicht mehr, wenn auch aus einigen der schwimmenden Wracks immer noch Rauch in den Morgendämmerungshimmel quoll. Rafe paddelte in gebührendem Abstand um eins dieser Wracks herum und versuchte herauszufinden, ob es zu denen gehörte, auf die er selbst mit brennenden Lumpen umwickelte Speere geschleudert hatte. Es war das Aufregendste, was er je getan hatte (außer vielleicht ein paar Sachen, die er und Ena machten), und er konnte immer noch nicht ganz fassen, dass es ihm wirklich erlaubt worden war. Aber die Sippenoberhäupter der Skimmer, diese lahmen alten Männer vom Schlag eines Turley Bei-Sonnenuntergang-in-einem-Jahr-zurück, hatten sich schlagartig verändert: Eine einzige, mysteriöse Audienz bei ein paar Frühen, und sie waren auf einmal Krieger. Wer hätte das gedacht? Rafe hatte seinen Vater mehrfach gefragt, wieso denn plötzlich alles anders war, aber Makrill hatte nur gesagt: »Sie haben uns die Hand hingestreckt. Uns ist verziehen.« Und als er gefragt hatte, »Verziehen? Was?«, hatte sein Vater geknurrt, er solle sein Blasloch zumachen und ein paar Fische heranschaffen.
    Aber wen interessierte das alles schon? Wer auch immer diesen Krieg gewann, Rafe juckte es nicht. Notfalls würde er seine Habseligkeiten zusammenpacken, Ena in die
Robbe
setzen und mit ihr irgendwohin paddeln, die Küste rauf oder runter. Vielleicht war es ja für die Kinder des Meerherrn Zeit, wieder auf die vuttischen Inseln zurückzukehren. Dort würden er und seine Liebste doch sicher eine unbewohnte Schäre finden, wo sie ungestört und glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben könnten ...
    Solcherlei Phantasien nachhängend, manövrierte Rafe sein Boot durch das Treibgut der verbrannten Schiffe, auf der Suche nach etwas Bergenswertem. Auf diese Weise hatte er letzte Nacht ein schwimmendes Fass mit südländischem Honig entdeckt, außen nur leicht verkohlt

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