Das Herz
Jetzt nimm das Messer, und wenn ich es sage, vollzieh das Opfer. Der Spiegel muss mit dem Blut beschmiert werden — das hat Okros gesagt. Aber schlitze der Kreatur die Kehle erst dann auf, wenn ich die dazugehörigen Worte spreche!« Tolly drückte Kettelsmit das Messer in die widerstrebende Hand. »Hier, halt fest. Es naht die Stunde, da dieser verfluchte xixische Hund sein eigenes Ritual vollziehen wird! Wir müssen vor ihm mit den Göttern handelseinig werden!« Tolly ließ plötzlich ein schallendes Lachen los, das fast noch beängstigender war als alles Bisherige — schierer Wahnsinn. »Oh! Oh! Stell dir vor, wie wütend der Autarch sein wird, wenn er merkt, dass ich zuerst in den Himmel eingebrochen bin — und alles gestohlen habe, was er dermaßen begehrt!«
»Tut es nicht, Matt!« Elans Stimme war so rauh wie Kettelsmits stinkende Totenkleider. »Nicht das Kind! Mein Leben, Euer Leben — nichts ist eine solche Untat wert ...!«
Er ertrug es nicht. Jedes ihrer Worte brannte wie ein Peitschenhieb. Er senkte das Messer auf die Kehle des Säuglings. Von der Berührung des kalten Metalls wachte der kleine Alessandros auf und schrie wieder los, und Kettelsmit zog das Messer hastig weg, um nicht versehentlich die zarte Haut des Kleinen zu ritzen. Er ertrug den Anblick des zappelnden Säuglings nicht, also schloss er die Augen.
Nichts,
sagte er sich.
Nichts, was ich tun kann. Nichts. Es könnte ebenso gut gar nicht passieren. Ich könnte schlafen. Alles nur ein Traum.
Er tastete nach der bebenden Brust des Säuglings, ließ die Finger der freien Hand sanft darauf ruhen.
Nichts.
Hendon Tolly las jetzt selbst vor, weitere Worte aus vorgeschichtlichen Zeiten, Worte, zuletzt gesprochen in den Tagen der unbetrauerten Herren der Schatten oder über einem Steingrab in den südlichen Wäldern, als es Hierosol noch nicht gab.
»Die mir begegnen, verschlinge ich roh!
Ich habe die Gelenke von Göttern gebrochen,
Ihre Wirbelsäulen und Hälse;
Ich habe ihre Herzen herausgerissen ...«
Es war nicht nur eine Anrufung, die sie da lasen, ging Kettelsmit auf, es war eine Herausforderung — eine Herausforderung der Götter selbst, der Sterbegesang eines heidnischen Königs, der behauptete, dass das Grab ihn nicht würde halten können, dass die Götter selbst seiner nicht Herr werden würden.
Er hörte etwas durch Tollys Worte hindurch, ein leises Geräusch, das dennoch von allen Seiten kam, ein schwaches Bummern und Scharren, als ob sich in jedem Sarg in der großen Gruftkammer etwas zu regen begänne.
»Ich habe die große Krone verschluckt!
Ich habe das Zepter der Herrschaft verschluckt!
Ich habe das Herz eines jeden Gottes verspeist!
Mein Leben wird nicht enden!
Meine Grenzen sind unbekannt und ungesetzt ...«
Matty Kettelsmit öffnete die Augen. Er konnte nichts sehen außer dem Flackern der Fackeln in einem jähen Luftzug, aber die Soldaten blickten erschrocken umher. Das Scharren und Kratzen wurde lauter, als ob sich Ratten durch die Wände fräßen. Zwei Soldaten flohen jäh in die Vorkammer hinaus. Hendon Tolly sah ihnen nach; die Augen traten ihm vor Wut aus den Höhlen, aber sein beschwörender Singsang wurde immer lauter: Er wagte offenbar nicht innezuhalten.
»Gebt mir die Augen Dessen-der-schaut!
Gebt mir die Knochen Dessen-der-baut!
Gebt mir das Herz Dessen-der-herrscht!
Gebt mir die Klugheit Dessen-der-bestimmt!
Und gebt mir Die-voller-Schönheit-ist zur Frau ...!«
Und jetzt fühlte Kettelsmit mehr als nur die Unruhe in ihrem Grabesschlaf gestörter Könige. Eine Präsenz, die ihm schrecklich bekannt war, lauerte irgendwo gleich außerhalb dessen, was der Dichter sehen, riechen und hören konnte — dasselbe Etwas, das sich im Spiegel an ihn herangepirscht hatte. Es war näher denn je; er fühlte, wie ihn dieses Etwas fixierte, als wäre er ein Insekt auf einer Tischplatte. Es war alt und stark und interessierte sich so wenig für Kettelsmits Sterblichengedanken und -gefühle, wie Kettelsmit sich für die Hoffnungen und Sorgen eines Steins interessierte. Und es kam immer noch näher ...
»Beuge dich mir!
Ich fürchte dich nicht!
Ich habe deine Organe verspeist
und deinen Mut gestohlen!«
sagte Hendon Tolly, und seine Stimme rutschte in eine schrille Tonlage, die Angst oder Verzückung ausdrücken mochte — oder beides.
»Ich gebiete dem Dunkel,
dich nicht zu verbergen!
Ich gebiete dem Licht,
dich zu suchen und zu enthüllen!
Der Himmel ist meine Geisel,
die Götter sind meine Sklaven!
Die Stunde ist
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