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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Qinnitan. Das ist mein größter Schmerz. Ich fürchte den Tod nicht, aber es ist mir schrecklich, dass ich meine Kinder nie wiedersehen werde.«
    »Bis im Himmel.«
    »Natürlich. Bis im Himmel.«
    Qinnitan schreckte aus leichtem Schlaf hoch, als die Träger den schweren Käfig absetzten und dabei Geräusche von sich gaben wie Ochsen mit Menschenzungen. Im Fackelschein war zu erkennen, dass sie sich in einem seltsam engen Gang befanden, dessen Decke nur wenige Armlängen über Qinnitans Kopf hing. Der Oberste Minister persönlich, Pinnimon Vash, alt und verschrumpelt wie ein in der Wüste liegengebliebenes Stück Sandalenleder, erteilte den Wächtern der beiden Gefangenen Befehle.
    »Es tut mir leid, König Olin.« Vash sprach die Nordländersprache, als hätte er sie mit der Muttermilch eingesogen. »Aber hier müssen wir viele Stufen hinabsteigen und viele enge Stellen passieren. Der Käfig und die Träger passen da nicht durch. Ich fürchte, Ihr müsst laufen.«
    »Aber ich werde gefesselt bleiben«, sagte Olin.
    »Bedauerlicherweise ja, Eure Hände werden gefesselt sein. Nach dem Vorfall von neulich ... nun ja, das versteht Ihr sicher.« Äußerlich wirkte Vash gelangweilt und förmlich, aber da war noch etwas anderes in seinem Verhalten, etwas seltsam Sprödes. Hatte er Angst vor diesen erdrückenden Tiefen, so weit unter der sonnenbeschienenen Oberfläche, oder war es noch mehr? Wenn er es auch gut verbarg, dachte Qinnitan, die durch das ständige trügerische Gelächle im Frauenpalast eine gründliche Schulung genossen hatte, wirkte Vash doch fast, als hätte er Angst vor Olin. Aber warum? Trotz dieses einen missglückten Anschlags auf den Autarchen war der König doch keine Gefahr mehr, so wenig wie sie.
    »Natürlich«, sagte Olin, und auch in seinen Worten schwang etwas Seltsames. »Was könntet Ihr auch anderes tun? Niemand von euch will ja schließlich, dass dem Autarchen etwas zustößt.«
    Er stichelte, das merkte sie — aber warum? Wozu?
    Sie wurde zuerst aus dem Käfig geholt, als Druckmittel, damit Olin fügsam war. Ab und zu hörte sie jetzt das dumpfe Gebrüll kämpfender Männer, lauter als die Geisterstimmen, die die Luft zuweilen herangetragen hatte. Also waren sie inzwischen nah am Kampfgeschehen, was hieß, dass die Feinde des Autarchen nicht weit waren. Gab es eine Möglichkeit zu fliehen? So gefährlich es auch wäre, ihr Glück im Chaos der Kämpfe zu versuchen — das würde sie gern riskieren.
    Aber es gab keine Fluchtmöglichkeit. Die Soldaten behandelten sie wie eine gefangene Mörderin: Sie banden ihr die Hände fest hinterm Rücken und legten ihr eine Schlinge um den Hals, ehe sie sie aus dem Käfig ließen. Als sie draußen stand, einen Soldaten an jeder Seite und einen im Rücken, holten sie Olin mit der gleichen Vorsicht heraus.
    »Ich komme mir vor wie Brenns weißer Stier«, sagte er. »Das ganze Jahr gefüttert und verhätschelt, nur um sich am Waisentag die Kehle aufschlitzen zu lassen.« Sein Gesicht war aschfahl. »Möge Erivors Gnade über uns walten.«
    Qinnitan erschauderte und schaffte es mit Mühe, auf den Beinen zu bleiben, als die Soldaten sie den engen Gang entlang und dann die uralten, ausgetretenen Stufen hinunter führten, in ein Dunkel, das nicht einmal die Fackeln gänzlich zu erhellen vermochten.

    »Kauen, Mann, wird's bald! Verflucht, ich habe dir doch gesagt, das muss sein.« Tolly schob Kettelsmit noch ein Stück von dem groben Schwarzbrot in den Mund. »Schlucken! Und dann wieder abbeißen. Beim Blut der Brüder,
heulst
du?«
    Kettelsmit heulte nicht direkt. Ihm waren nur Tränen in die Augen gestiegen, weil er würgte und fast keine Luft mehr bekam. Das Schwarzbrot, mit Tintenfischtinte gefärbt und ohne Salz und Sauerteig gebacken, war trocken und schmeckte scheußlich, und sein Mund war so voll, dass, wenn er hustete, Krümel stoben wie Holzasche.
    »Sei froh, dass ich keinen schwarzen Hund gefunden habe«, sagte Hendon Tolly, »sonst würde ich dir jetzt eine Mahlzeit verabreichen, die dich wirklich zum Heulen brächte. Jetzt zieh diese Leichenkleider da an — Okros hat gesagt, die Anrufenden müssen so gekleidet sein, um mit den Totenlanden des Jenseits zu sprechen.«
    Okros ist aber gestorben wie eine halb von der Katze gefressene Maus,
dachte Kettelsmit unglücklich. Es gab kein Entkommen. Wohin er auch blickte — überall nur das nackte Grauen.
    Elan stand schwankend zwischen zwei Wachen; ihr Gesicht war wie ein Fenster mit geschlossenen Läden

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