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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Jeder Herzschlag bringt uns dem Verhängnis näher.«
    Und dieses Verhängnis wäre, das war ihm klar, nicht wie die Lange Niederlage, auf die Saqri und ihr Volk seit Jahrhunderten warteten wie ein Liebender auf die Rückkehr seiner Geliebten. Dieses Ende würde ganz anders sein — finster, brutal und sinnlos.
    Die Seile ächzten, doch obwohl sie verblüffend dünn waren, hielten sie. Ab und zu rutschte Barricks Fuß vom Fels ab, und sein Körper drehte sich von der Kliffwand weg. In diesen gefährlichen, schwindelerregenden Momenten sah er, wie Boote von der Insel abgestoßen wurden, hinaus auf das seltsam metallischgraue Meer. Und jedes Boot war, wie er wusste, voller xixischer Soldaten, Männer, die bereit waren, ihre eigene Angst — die jetzt, an diesem seltsamen Ort, wahrlich groß sein musste — mit dem Blut möglichst vieler Qar und Funderlinge zu übertünchen.
    Er schaute hinauf zum Kliffrand, wo Ferras Vansen und die Funderlinge gerade auf langsamere, vorsichtigere Weise ihre eigenen Abseilvorrichtungen fertigstellten, um ebenfalls hinabzusteigen und sich gemeinsam mit den Qar in das zu stürzen, was nach Barricks Ansicht bestenfalls ein glorreicher gemeinsamer Selbstmord sein konnte.
    »Denkt an Große Tiefen!«, schrie er Vansen zu, und seine Stimme hallte von den fernen Höhlenwänden wider. Der Gardehauptmann hob die Hand zum Gruß.
    Barrick staunte über sich selbst. Wie kam er dazu, so etwas zu tun? Es gab keine typischere Verkörperung des Menschlichen als Vansen mit seinem unerschütterlichen guten Willen und seiner blinden Treue, und es gab keinen Sterblichen, der weniger menschlich war als er, Barrick Eddon, jetzt, da die Feuerblume in seinem Herzen und seinen Gedanken brannte. Was kümmerten ihn Menschen und ihre Angelegenheiten?

    Pinnimon Vash hatte schon viele seltsame Orte gesehen, von den geheimen Wasserverliesen unterm Obstgartenpalast bis zu den berüchtigten Gruften der Blauen Könige der Mihanniden und sogar der Familiengrabstätte des Autarchen selbst, der legendären Aeyrie der Bishakh, die vor dem Himmel aufragte, als sei sie aus dem Fels des Gowkha-Bergs gewachsen ... aber so etwas hatte er noch nie gesehen.
    Allein die Höhle — ach, schon die Bezeichnung schien unsinnig. Diese gewaltige Kaverne tief in der Erde musste ein Viertel so groß sein wie der Obstgartenpalast mit seinem gesamten Gelände. Mit den Adern von mattleuchtendem Gestein und den glitzernden Kristallknollen in den gewölbten Wänden erschien sie Vash wie eine Art Modell des Himmels, erbaut, um die Tafel eines Gottes zu zieren; in der Mitte jedoch, fast genau über Vash, erstreckte sich nur Dunkel. Die Decke, wenn es denn eine gab, war viel weiter weg, als das schwache Licht der xixischen Fackeln reichte. Es war ein Gefühl, dachte Vash, als ob man vom Grund eines tiefen Brunnens emporblickte.
    Er stand mit dem Heer des Autarchen auf der Insel mitten im Meer der Tiefe, aber was ihn verblüffte und bedrückte, war der Leuchtende Mann — der berghohe, menschenförmige Brocken von mattem Stein im Zentrum der Insel. Es war keine Statue. Kein von Händen — weder menschlichen noch sonst irgendwelchen — geformtes Abbild eines tatsächlich existierenden Wesens. Vielmehr wirkte es irgendwie roh, so als hätte jemand geschmolzene Edelsteine in den Abdruck eines Mannes gegossen, der der Länge nach in den Schlamm gefallen war. Aber da war noch mehr. Obwohl das Gebilde im Augenblick nur im gebrochenen Licht der Höhlenwände schimmerte, hatte Vash darin kurz ein stärkeres Leuchten wahrgenommen, wie das Flackern einer Kerze hinter altem Glas, und ihm hatten sich die Nackenhaare gesträubt. Der Oberste Minister wollte das nicht noch einmal sehen, dieses Pulsieren, das aussah wie das Schlagen eines riesigen kranken Herzens.
    Um ihn herum auf der Felsinsel wimmelte es von xixischen Soldaten, die sich alle Mühe gaben, die unheimliche Umgebung zu ignorieren, während sie die letzten Schilfboote fertigstellten. Vash konstatierte, dass er und der Antipolemarch offenbar korrekt geplant hatten, wie viele Schilfbündel die Männer unter die Erde mitnehmen mussten, und für einen Moment war er erleichtert, bis ihm aufging, wie töricht das war; was nützte es schon, dass Vash seine Pflicht erfüllt hatte, dass der Autarch an seinen Vorbereitungen nichts auszusetzen finden konnte? Bald schon würden sie vielleicht alle tot sein, oder der Autarch würde die Macht des Himmels selbst erlangt haben. So oder so — nichts würde mehr

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