Das Herz
sein wie vorher.
»Wo ist mein getreuer Oberster Minister?«, rief der Goldene. Wieder spürte Vash, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.
»Hier, o Großes Zelt.« Er humpelte über die verrutschenden runden Steine, bis er die Stelle erreichte, wo Sulepis stand; groß und schlank in seiner goldenen Rüstung, war er selbst in diesem unsteten Licht ein erhabener Anblick. »Wie kann ich Euch dienen, Herr?«
»Sind die Boote fertig?«
Vash atmete tief durch und verbarg seinen Ärger. Es war nicht zu übersehen, dass sie fertig waren. Am Ufer standen die Soldaten säuberlich aufgereiht neben den Booten, mächtigen Flößen, an deren Enden das gebündelte Schilf so zusammengeschnürt war, dass es Bug und Heck bildete. »Natürlich, o Goldener«, sagte Vash. Es war eine ungeheuer schwierige Aufgabe gewesen, so kurzfristig so viel Flussschilf von Hierosol hierher zu transportieren, ohne dass es nass wurde oder gar moderte, aber man hatte ja nicht wissen können, ob in dieser götterverlassenen nördlichen Einöde das richtige Material zu finden wäre, und auf Versagen reagierte der Goldene sehr unangenehm.
Sulepis wird zum Gott werden, während ich wahrscheinlich sterbe und hier in diesem feuchten nördlichen Höllenloch verscharrt werde,
dachte Vash,
ohne dass auch nur ein einziger Priester übrig ist, um für mich zu beten. Aber dort liegen die Boote. Ich habe wieder einmal getan, was meines Amtes ist.
Laut sagte er: »Die Boote sind bereit. Was wünscht der Goldene noch?«
»Die Gefangenen natürlich. Alle.«
Vash blinzelte. »Alle?«
Sulepis blickte wie aus großer Höhe auf Vash herab, so als wäre er selbst der Leuchtende Mann. »Ja. Den König, das Bienentempelmädchen und die nordländischen Kinder. Ist Euch das genehm, Minister Vash? Oder soll ich jemand anderen bitten, der gerade nichts Besseres zu tun hat?«
Vash lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Verzeiht meine Dummheit, o Goldener, ich hatte es nicht verstanden. Natürlich werden sie alle bereits hergebracht. Panhyssirs Priester holen die Kinder, und die anderen kommen dort.« Er zeigte auf eine kleine Prozession von Soldaten, die gerade aus dem Gang kam, der unter dem silbernen Meer hindurch auf die Insel führte; in der Mitte gingen die Gefangenen, König Olin und das Mädchen, die Hände hinterm Rücken gefesselt. Der Priester A'lat turnte vorneweg; er ging rückwärts, in jeder Hand eine qualmende Schüssel, und hüllte die Gefangenen in Rauchschwaden. Als er sich umdrehte, krampfte sich Vashs Magen zusammen: Der Wüstenpriester trug eine Maske, die aus der Gesichtshaut eines anderen Menschen gemacht schien.
»Gut, gut.« Sulepis zog seine goldenen Fingerschützer ab und ließ sie auf den Teppich fallen. Einer der Sklaven starrte einen Augenblick hin und sammelte sie dann rasch auf »Das hier muss ich mit meiner eigenen Haut spüren. Schaut, Vash!« Sein langer Arm vollführte eine ausholende Bewegung, wies auf die Höhle, den Leuchtenden Mann und vielleicht noch andere Dinge, die nur Sulepis selbst sehen konnte. »Nehmt alles um Euch herum bewusst wahr — Gerüche, Geräusche, Formen und Farben —, denn binnen einer Stunde wird die Welt für immer eine andere sein.«
»Gewiss, o Goldener. Natürlich.« Vash wollte nur, dass dieser ganze makabre Horror bald ein Ende fände, damit er sich irgendwie auf das einstellen konnte, was dann kam — falls das überhaupt möglich war. »Kann ich noch etwas tun für Euer ... Ritual? Benötigt Ihr einen Altar ...?«
»Einen Altar?« Das fand Sulepis sehr erheiternd. »Versteht Ihr denn nicht, Vash? Dieser ganze Ort ist ein Altar, eine Stelle, wo einst die Himmel erschüttert wurden — und jetzt wieder erschüttert werden! Diese Stelle ist geheiligt durch das Blut und die Schreie der Götter selbst!« Die Stimme des Autarchen war so laut geworden, dass Soldaten und Amtsträger auf der ganzen Insel vor Furcht zitterten, weil sie es für einen Wutausbruch hielten. »Nein, mein Altar ist die Erde selbst, dieses silberne Meer und die Narbe, die zurückblieb, als Habbili den Rückweg in diese Welt mit seinem eigenen erlöschenden Geist versiegelte.« Er machte eine Handbewegung zum Leuchtenden Mann hin, der über ihnen aufragte wie der Turm eines großen Tempels. »Wisst Ihr nicht, was das Ding da in Wirklichkeit ist? Es ist die Stelle, wo Habbili der Krumme das Fleisch der Welt selbst aufriss, um die Götter zu verbannen! Dann schloss er, selbst tödlich verwundet, das Loch mit seinem eigenen
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