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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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anderen Seite des Wegs der Boden jäh abfiel — ein schwarzer Abgrund, den die Fackel nur ein Stück weit zu erhellen vermochte. Der Weg selbst führte in Windungen abwärts — ähnlich der Treppe des Wolfszahnturms —, auf der einen Seite den Abgrund, auf der anderen eine unbehauene Steinwand. Wie weit hinab mochte er führen? Und wohin? Und wo war Hendon?
    Just in diesem Moment ließ sich Tolly, der wie eine Spinne über ihr an der Steinwand gehangen hatte, auf sie hinabfallen. Fast hätte er sie in das schwarze Nichts neben dem Weg gestoßen, aber Briony konnte sich noch so wegdrehen, dass sie am Rand des Steinsimses zu liegen kam. Sie kämpfte sich in die Mitte des Wegs zurück, wobei ihr allerdings die Fackel zu Boden und das Schwert in den Abgrund fielen.
    Hendon warf Briony auf den Rücken, kniete sich auf sie, sein ganzes Körpergewicht auf ihren Armen, und setzte ihr seinen kalten Dolch an die Kehle.
    »Ich habe eine Menge Zeit mit dir vertan, Mädchen.« Tollys Schweiß tropfte ihr aufs Gesicht. »Deshalb werde ich dir jetzt einfach die Kehle aufschlitzen.«

    Er hörte kaum etwas anderes als die beruhigende Stimme; ihre wortlose Zustimmung oder Missbilligung half ihm, den Weg zu finden, lenkte seine Schritte durchs Dunkel. Ihm war, als wäre er schon seit Tagen unterwegs, aber konnte das denn sein? Er rang darum, sich zu erinnern, wo er vorher gewesen war, und ganz langsam kam es ihm wieder: sonderbare Gesichter, sonderbare Gerüche, fremdartige Sprachen, gesprochen von noch fremdartigeren Kreaturen. Das war es — er war unter den Zwielichtlern gewesen. Aber wo war er jetzt? Und warum war das Denken so schrecklich schwer?
    Chaven Makaros. So heiße ich. Ich bin Chaven, der Arzt ... der königliche Hofarzt ...!
Der Name und der Titel waren alles, was ihm von sich geblieben war, warum schienen sie dann so unwichtig?
    Die wortlose Stimme drängte ihn, schneller zu gehen, eine Anweisung, die er körperlich fühlte. Schneller. Ja, er musste schneller gehen. Er wurde gebraucht. Ohne ihn konnte nichts geschehen. Und dann würde er belohnt werden.
    Aber warum konnte er sich nicht erinnern, worin die Belohnung bestehen sollte? Und wer ihn überhaupt belohnen würde?
    Während die Kämpfe im Labyrinth tobten, hatte Chaven sich davongeschlichen. Es war eine Erlösung gewesen, Barrick und die feueräugigen Qar hinter sich zu lassen. Zu viele Fragen. Zu viele neugierige Blicke. Sie waren keine menschlichen Wesen, so viel stand fest, und Prinz Barrick war, um ehrlich zu sein, auch keins mehr. In manchen Augenblicken hatte Chaven sich regelrecht nackt gefühlt, war er sich sicher gewesen, dass jeder, der ihm begegnete, durch ihn hindurchsehen und seine heimlichen Loyalitäten erkennen konnte.
    Welch seltsamer Gedanke, dass sein Leben bis vor einem guten Jahr noch ganz normal gewesen war. Dann hatte er beim Besuch eines fernen Marktes, auf einer Reise, wie er sie mehrmals im Jahr unternahm, den Spiegel gefunden, wenn er sich auch nicht mehr erinnern konnte, wie er ihn nach Hause gebracht hatte. In den folgenden Tagen, als er den Spiegel gesäubert und bestaunt hatte, war aus der Leidenschaft für einen interessanten alten Gegenstand mehr geworden: Chaven hatte immer längere Zeiträume damit verbracht, das gewölbte Glas zu polieren und in seine verlockenden und manchmal auch leicht verwirrenden Tiefen zu starren. Und wenn er sich auch nicht erinnerte, wann und wie es geschehen war, hatte er eines Tages entdeckt, dass er hindurchzuschauen vermochte. Auf die
andere Seite.
    Und dann ... Und dann ... Was dann geschehen war, wusste er nicht mehr. Jedenfalls nicht alles: Zeitweise war sein Leben natürlich immer noch normal weitergegangen, und der Spiegel war nichts weiter gewesen als ein unbehaglicher Schatten im Hintergrund seines Denkens. Zu anderen Zeiten jedoch hatte der Spiegel ... Dinge passieren lassen. Chaven hatte sich an seltsamen Orten oder in seltsamen Situationen wiedergefunden, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war. Die Kernios-Statue war eines der Dinge gewesen, die einfach so passierten. Eines Tages hatte er sie mitten auf seinem Tisch gefunden, und obgleich er in den Burgarchiven herausbekommen hatte, worum es sich handelte, wusste er doch nichts darüber, wie die Statue zu ihm gekommen war, bis zu jenem Moment, da dieser Skimmer vor seiner Tür gestanden hatte, um seinen Lohn abzuholen — das Gold, das Chaven ihm und seiner Sippe dafür versprochen habe, dass sie ihm die Statue aus den tiefen

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