Das Herz
auf die Holzbohlen hinübersteigen und auf die weite silberne Fläche des Meers der Tiefe hinausblicken konnte. Zur Linken des Autarchen waren Soldaten am kurvigen Inselufer verteilt. Viele schossen mit Gewehren auf die Kämpfenden am jenseitigen Ufer, obwohl Qinnitan nicht glaubte, dass sie in dem Getümmel Freund und Feind unterscheiden konnten. Aber die Sache war ohnehin klar. Der Anführer der Angreifer, eine schlanke Gestalt in einer weißen Rüstung, war soeben gefallen, und der Rest der Truppen zog sich vor der Übermacht der Xixier zurück. Jetzt kämpften sie nur noch um ihr Leben.
Zwei Leoparden kamen auf den Pfahl zu. Ohne Qinnitan zu beachten, ketteten sie König Olins Handeisen von dem Pfahl los.
»Habt keine Angst, Qinnitan«, sagte er. »Ich habe keine.«
»Ich bete für Euch«, rief sie ihm zu. »Mögen die Götter Euch Frieden schenken, Olin Eddon ..!«
Die Arme des Königs waren immer noch gefesselt. Die Wachen hielten ihn aufrecht, während sie ihn über die schlüpfrigen Steine zu der Plattform und dem wartenden Autarchen führten. Der Goldene blickte zwischen der reglosen, spiegelnden Fläche des Meers der Tiefe und dem mächtigen, mannsförmigen Steingebilde in der Mitte der Insel — dem Leuchtenden Mann — hin und her. Der Steinkoloss schien so dunkel wie schwarze Jade, aber Qinnitan hatte im Inneren farbiges Licht pulsen sehen, fast schon verstohlen, als ob das, was darin lebte, noch nicht bemerkt werden wollte.
Während die beiden Wachen Olin die rohe Treppe zur Plattform des Autarchen hinaufführten, trieben die anderen Soldaten die gefangenen Kinder ans Ufer der Insel hinunter und zwangen sie am Rand des silbernen Nasses auf die Knie, jeweils in einem gewissen Abstand. Oberpriester Panhyssir war inzwischen auf die Plattform geleitet worden und stand neben dem Autarchen. Mit ihm waren noch mehrere andere Priester gekommen, die jetzt die Luft rund um den Autarchen mit Weihrauch und gemurmelten Gebeten erfüllten.
Das also war das Ende, wurde Qinnitan bewusst. All ihre verzweifelten Fluchtanstrengungen, all die Momente, in denen sie sich endlich frei geglaubt hatte ... und herausgekommen war das hier. Sie war froh, dass sie Spatz gerettet hatte. Aber da! Wie um ihr die Sinnlosigkeit der Rettung dieses einen Kindes zu demonstrieren, wurden vor ihren Augen hundert Kinder abgeschlachtet. Wollten die Götter ihr unbedingt beweisen, wie vergeblich ihr Bemühen gewesen war?
»Die, die wach sind, rufen den Schlafenden zu,
›Hier! Unsere Tür ist offen — kommt, kommt!
Wir haben den Dornenwall niedergerissen
Und den Pfad von Brennnesseln befreit.‹«
Panhyssir sprach die Beschwörung in einem so alten Xixisch, dass Qinnitan die Worte kaum verstand, und der mächtige Bart des Oberpriesters wippte auf seiner geschwellten Brust auf und ab. Die Soldaten am Inselrand, einer bei jedem knienden Kind, blickten auf die Plattform.
»Ihr habt doch mich!«, rief Olin dem Autarchen zu. »Lasst das Mädchen jetzt frei!«
Etwas versuchte in Qinnitans Kopf zu gelangen.
»Danke, dass Ihr mich daran erinnert«, sagte Sulepis. »Wachen! Das Mädchen auch herbringen!« Zwei weitere Soldaten ketteten sie eilends von dem Pfahl los und schoben sie dann zur Plattform hin, aber Qinnitan fühlte ihre rauhen Hände kaum.
Da ist noch etwas, das uns beobachtet,
ging ihr auf. Die Soldaten schleppten sie die Treppe hinauf und stellten sie neben Olin ab. Ihr ohnehin schon pochendes Herz hämmerte jetzt gegen ihre Rippen wie der Schnabel eines Spechts.
Das monströse Etwas, das ich fühle, wenn das Sonnenblut in mir ist ... es ist hier
In der Höhle schien es dunkler zu werden, aber irgendwoher wusste Qinnitan, dass nicht die Welt in tieferen Schatten sank, sondern sie selbst. Die Präsenz war rings um sie herum, und doch war sie zugleich in Qinnitan, nahm die Welt des Tageslichts und der Luft durch Qinnitans Sinne wahr, wartete gleich hinter einer unbegreiflichen Tür, die vor Jahrtausenden geschlossen worden war.
Hier,
wurde ihr klar, und ihre Gedanken warfen sich panisch gegen ihre Schädelwände.
Hier ist die Tür geschlossen worden, und hier wartet es schon die ganze lange Zeit ... wartet darauf zurückzukönnen ...!
»Lass nicht das Ewige dein Kommen verzögern!
Lass nicht den Wirbelwind deine Fußstapfen stehlen!
Wir Sterbenden sagen dir, dem Unsterblichen, ›Komm!«‹
Panhyssir hob theatralisch die Arme, ohne zu wissen, dass in dem Moment, da er es tat, eine ganze Welt des Dunkels den Atem anhielt wie
Weitere Kostenlose Bücher