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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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diesem Mann zu Kernios hinterherzuschicken.«
    Tollys Kiefermuskeln waren angespannt. »Ihr habt einiges gelernt.«
    Er vollführte eine Finte, dann einen Stoß und sofort einen zweiten, der als der eigentliche Treffer gedacht war und es beinah auch geworden wäre. Sie war bereits müde, während Hendon noch nicht einmal schwerer atmete. Er war nicht groß, aber sehr kräftig, mit Muskeln wie geflochtene Peitschenschnüre. »Hat Euch das Shaso beigebracht, oder war es Euer neuer Liebhaber Eneas?«, fragte er. »Ich habe Shaso töten lassen, nur damit Ihr's wisst. Auf meinen Befehl wurde dieses Nest von schwarzen Verrätern in Landers Port niedergebrannt. Ein Jammer, dass Ihr nicht mit den anderen Vögeln in jenem Ofen gebraten wurdet ...«
    Nicht hinhören,
ermahnte sie sich, obwohl ihr vor Wut fast die Tränen kamen.
Hör nicht hin.
Sie wich einem weiteren Stoß aus und lenkte gleich darauf einen zweiten mit ihrer Klinge ab, fühlte aber Tollys Klingenspitze durch ihren Wappenrock dringen und sogar kurz über ihren Hals kratzen, als sie sich wegdrehte. Ihre Kräfte ließen merklich nach; sie kam aus dem Gleichgewicht und fiel fast hin. Hendon erkannte seinen Vorteil, setzte ihr nach und hämmerte auf sie ein wie ein Schmied auf den Amboss, und Briony konnte nur noch versuchen, ihre Klinge zwischen Hendons Schwert und ihrem Fleisch zu halten.
    Aber ich kann nicht mehr. Er ist schneller als ich ... stärker als ich ... und er war schon immer ...
    Plötzlich schrie Elan M'Cory auf, ein Schrei nackten Entsetzens, so echt, dass selbst Hendon Tolly von Briony abließ, um hinzuschauen. Eine dunkle Gestalt blockierte den Durchgang zwischen den Gruftkammern und tat jetzt einen wankenden Schritt in die innere Kammer.
    Zuerst dachte Briony, einer der Toten aus dem Familiengrab wäre auferstanden und stünde nun schwankend am Rand des Dunkels, in seinem dreckigen, zerschlissenen Totengewand, den Totenschädel tief unter der Kapuze verborgen. Das Etwas streckte Hände nach ihr aus, die im flackernden Fackelschein wie in Leichentücher gewickelte Klauen aussahen.
    Es sprach, aber seine Stimme war ein beinah unhörbares, heiseres Krächzen. Brionys Nackenhaare sträubten sich, und ihr ohnehin schon rasendes Herz drohte ihr aus der Brust zu bersten.
    »B-B-Brüder, bewahrt uns!«, sagte Briony.
    Die Erscheinung versuchte erneut zu sprechen, und diesmal waren wenigstens Worte hörbar — geröchelte Wortfetzen, die zu hören fast so schmerzhaft war, wie es ihre Hervorbringung zweifellos sein musste.
»Briony ...!«,
röchelte das Etwas.
»Ich bin ... zurück ... aus den Totenlanden ...«
    Ihr stockte der Atem, als die vermummte Gestalt einen weiteren wankenden Schritt ins Gruftgewölbe machte. »Barmherzige Zoria«, stieß sie hervor. »Seid Ihr das, Shaso? Bei den Göttern, seid
Ihr's?«
Doch noch während sie es sagte, noch während sie von abergläubischer Furcht gepackt wurde, schien etwas nicht zusammenzupassen.
    Noch seltsamer war Tollys Reaktion: Dem Reichshüter traten förmlich die Augen aus den Höhlen, und seine Hände hoben sich in einer Geste hilfloser Abwehr; das Schwert, das er immer noch hielt, schien vergessen. »Du ...! Aber ... du bist
tot!
«
    Und dann kam Elan M'Cory am Boden herangekrochen, weinend und betend, und Briony war überzeugt, dass in dieser chaotischen Mittsommernacht alle um sie herum verrückt geworden waren.
    Die umwickelten Hände hoben sich langsam und schoben die Kapuze zurück. Zunächst starrte Briony nur verständnislos auf die milchig trüben Augen und die fahle, suppende Haut, die umso leichenhafter wirkte, als sie über und über mit etwas verkrustet war, das wie schwarze Erde aussah. Doch dann drehte sich das verwüstete Gesicht langsam von ihr zu Hendon Tolly, und sie begriff, was sie da sah —
wen
sie sah.
    »Gailon«, stieß sie fassungslos hervor. »Gailon Tolly.«
    Das Wesen zeigte auf Hendon.
»Du«,
röchelte es, als wäre jedes Wort eine Qual. »Du hast mich getötet.«
    »Was soll dieser Wahnsinn?« Aber alle Überheblichkeit war aus der Stimme des Reichshüters verschwunden. »Ist das irgendein Trick? Du warst tot, Bruder. Durchlöchert von einem Dutzend Pfeilen. Aber du bist kein Geist, das könnte ich schwören — du bist aus Fleisch und Blut ...«
    »Deine Männer ... haben mich niedergeschossen, Bruder, und dann ... begraben, mit meinen Dienern und Freunden.«
Die Worte schienen jetzt etwas leichter herauszukommen, aber er sprach immer noch mit stockender, zerstörter

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