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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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eine Katze, die vor einem Mauseloch lauert, reglos bis auf den peitschenden Schwanz.
»Tritt durch das bronzene Tor,
wo der Drache der Vernunft wacht.
Tritt durch das silberne Tor,
wo der Löwe des Irrglaubens wacht.
Tritt durch das goldene Tor,
wo die dunklen Wesen im Schatten kauern,
In Furcht vor deinem Licht
und deiner Erhabenheit ...!«
    »Jetzt!« Die Stimme des Autarchen bebte vor freudiger Erregung. »Ah, jetzt! Das Blut!«
    Die Soldaten am Ufer packten ihre kindlichen Gefangenen am Haar und bogen ihnen den Kopf zurück. Als jeder eine Klinge über einem schmalen Hals in Stellung brachte, wusste Qinnitan: Was hier geschah, war noch schlimmer als die Ermordung von Kindern — hundertmal so schlimm? Tausendmal? Überall am Inselrand starrten die Spiegelbilder der Gefangenen entsetzt zurück — hundert Kinder und noch einmal hundert, gespiegelt von flüssigem Silber. Qinnitan öffnete den Mund, um eine Warnung zu schreien — begriffen sie denn nicht, was der Autarch tat, welche Kräfte er entfesselte? —, aber das begierige Dunkel war ebenso in ihr wie um sie herum und ließ sie keinen Laut hervorbringen.
    Die Klingen senkten sich, glitten seitwärts, und die Kinder fielen wie Mehlsäcke auf den steinigen Boden — doch zu Qinnitans Verblüffung waren die kleinen Gefangenen allesamt unversehrt, ihre Hälse heil; die Soldaten hatten nur so getan, als schnitten sie ihnen die Kehle durch. Doch die Spiegelbilder der Kinder waren von den gespiegelten Soldaten tödlich verletzt. Im spiegelnden Wasser des Meers der Tiefe sprudelte Blut aus ihren durchtrennten Kehlen, in der realen Welt aber lebten die Kinder noch. Und dennoch breitete sich ein roter Fleck in dem Silber aus.
    »Seht Ihr, Olin — was zählt, ist das Opfer im Spiegelland!«, sagte der Autarch lachend. Qinnitan hörte ihn kaum durch das Hämmern in ihrem Schädel, das Gefühl, dass ihr Kopf platzen würde wie eine faulende Frucht. »Entscheidend ist nur, was dort geschieht, auf der anderen Seite — dass der Spiegel von unschuldigem Opferblut getrübt wird!« Er wies mit beiden Händen auf das gesamte Meer der Tiefe. Durch das Silber wälzten sich rote Schwaden, bildeten einen Fleck, der sich rasch ausbreitete, als wären Gallonen realen Blutes vergossen worden. »Und das hier ist der größte Spiegel, den es je gab.— ein Spiegel aus Habbilis göttlicher Essenz!« Er wandte sich an die Soldaten. »Die Kinder werden nicht mehr benötigt. Das Ritual ist erfolgreich durchgeführt. Ihr könnt euch jetzt der Gefangenen entledigen.«
    »Aber Ihr habt doch erreicht, was Ihr wolltet — Ihr braucht das nicht zu tun ...!«, rief Olin, doch ihm blieb die Stimme weg, und sein wütender Aufschrei endete in einem schrecklichen rauhen Geräusch wie von etwas Zerreißendem. Und als die Leopardengarden des Autarchen auf die hilflos schreienden Kinder einstachen, die noch am Rand des silbrigen Meers knieten, und anderen nachsetzten, die törichterweise zu fliehen versuchten — da geschah etwas mit dem König von Südmark.
    Olins Bewacher hatten Mühe, ihn aufrecht zu halten: Der Nordländerkönig wand sich und stöhnte wie ein verwundetes Tier; die Augen quollen ihm hervor, als ob sich etwas in seinem Schädel durch die Augenhöhlen hinauszwängen wollte. Ringsum wurden schreiende Kinder von xixischen Soldaten eingefangen und abgeschlachtet, aber was Qinnitan entsetzte, war etwas anderes: Dasselbe Etwas, das offensichtlich von dem Nordländerkönig Besitz ergriffen hatte, drängte auch in ihre Gedanken — ein sehr altes, sehr schreckliches Etwas.
    Die Fläche des Meers der Tiefe war jetzt fast ganz rot, und auch in Vertiefungen des steinigen Inselufers standen Tümpel vom Blut der gemarterten Kinder, aber ein heiserer Ruf hinter ihr lenkte Qinnitan von diesem grässlichen Anblick ab. Ein ganzes Stück weiter am Inselufer war das Schilfboot angetrieben, das sich drüben am Strand selbständig gemacht hatte. Ihm entstiegen zwei Männer, auf die jetzt bereits Soldaten des Autarchen zurannten. Der eine trug ein gewöhnliches, arg mitgenommenes Panzerkleid aus Metall, der andere aber eine Rüstung in einem seltsam schimmernden Blaugrau und einen Helm von derselben Farbe.
    Die xixischen Soldaten erreichten die beiden Krieger und warfen sich auf sie. Qinnitan war sich sicher, dass die Ankömmlinge dem Tod geweiht waren, doch im nächsten Moment schreckten die Xixier zurück, und zwei von ihnen flogen beiseite wie kaputte, blutende Puppen. Der hochgewachsene Krieger hatte

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