Das Herz
Götter!
Doch wenn die Götter sie hörten, jetzt, da sie näher schienen denn je, kümmerte es sie offenkundig nicht. Barrick lag nur wenige Schritte von ihr entfernt, aber es hätten ebenso gut Meilen sein können. Er war so schlimm zugerichtet und blutete an so vielen Stellen, dass er wohl nie mehr zu sich kommen würde.
Und Olin ...! Zu welchen Folterqualen hatten ihn die Götter verdammt?
Als die Sprechgesänge der Priester wieder einsetzten, hörte der Nordländerkönig endlich auf zu zittern, aber Qinnitan konnte ihn jetzt kaum noch sehen. Etwas Schreckliches ging mit ihr vor, als ob mit jedem Moment mehr von ihrer Essenz verkochte. Alles, was sie war, was sie wusste, woran sie sich erinnerte, begann zu verdampfen.
»Stöhnender!
Stemmender!
Bringer des Winters und des Dunkels!«,
sang der Priester.
»Herr des Tors
Trennender!
Knotenschlinger!
Weiße Wurzel im Tiefsten Grund!
Tritt hindurch! Zeig uns dein Gesicht.
Die Tür ist offen!
Tritt heraus! Zeig uns dein Feuer!
Steh auf! Zeig uns dein Gesicht!
Steh auf! Zeig uns dein Herz!
Steh auf!«
Jedes Mal, wenn der Priester diese beiden Worte rief, schrie Qinnitan auf, und Olin gab einen Laut von sich, der nicht mehr viel Menschliches hatte. Qinnitan wollte sich zu dem gequälten König hinwälzen, konnte sich aber nicht bewegen und kaum noch an ihren Gedanken festhalten.
»Steh auf!>
Steh auf!«
Plötzlich setzte Olin sich kerzengerade auf. Er schaukelte wie eine Haubenschlange, und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse äußerster Pein. Von seinen Augen war nur noch das Weiße sichtbar.
»Die Tür ist offen!«
Es war jetzt so nah — Qinnitan fühlte den gewaltsam aufgerissenen Spalt in der Welt und die riesige, schreckliche Präsenz, die sich hindurchzwängte. Wie konnten die Priester noch weitersingen? Wie konnte Sulepis so aufrecht dastehen, völlig ausdruckslos bis auf dieses verrückte leise Lächeln? Der Autarch, seine Soldaten, die Priester — sie alle bemerkten anscheinend die grässliche Präsenz nicht, die sie und den Nordländerkönig umbrachte.
Olins Atem ging jetzt noch schneller, war eine Kette rauher Stöhnlaute. Seine Arme hoben sich wie Vogelflügel, als ob er gezwungen würde, diesen schrecklichen Besucher mit offenen Armen zu empfangen. Blut rann ihm aus der Nase, und sein Kopf rollte haltlos hin und her.
Qinnitan fühlte, wie das Etwas in den Körper des Königs eindrang, aber irgendwie brannte es sich allein durch seine Nähe auch in sie hinein. Es stieg empor in ihre Welt ... genau hierher ...!
Ein stechender Schmerz ließ sie zusammenzucken, und für einen Moment wurde alles schwarz. Als sie wieder etwas sah, hatte Olin den Kopf in den Nacken geworfen, in einem schrecklichen Winkel, als ob er an einem Angelhaken hinge. Der schnelle, rauhe Atem des Königs war jetzt ein einziges Wimmern.
»O Götter, wenn auch nur ein Fünkchen Barmherzigkeit in euch ist,
helft
uns ...!«, rief sie unter Tränen — aber kein Gott reagierte.
Beim Klang ihrer Stimme schlug Barrick die Augen auf. Für diesen einen Augenblick, den einzigen Augenblick vielleicht, der Qinnitan auf dieser Welt noch beschieden war, trafen sich ihre Blicke — dann schlug das heiße, gnadenlose Schwarz über ihr zusammen und verschluckte sie.
40
Feuriges Lachen
»Als Zmeos merkte, was geschehen war, verließ er wütend seine Burg. Da er nicht ungeschehen machen konnte, was der Waisenknabe getan hatte, floh er hoch in den kalten Norden, in Gefilde, wo Eis und Dunkel auch jetzt noch überdauerten. Und alle Bewohner Eions jubelten, als sie die Sonne wieder am Himmel brennen sahen, und dankten den Drei Brüdern ...«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Leute, die keine Flattermäuse reiten, wissen nicht, wie grundlegend sie sich von Vögeln unterscheiden. Eine Flattermaus rudert nicht so ruhig durch die Luft wie ein Vogel, und die Gleitphase ist kürzer. Außerdem muss sich der Reiter eng an den pelzigen Körper der Flattermaus schmiegen, weil er sonst hin und her schwankt und den Flug des Tiers verlangsamt.
Giebelgaup der Bogenschütz wusste das alles und noch mehr — er ritt Flattermäuse, seit er groß genug gewesen war, dass ihn sein Vater vor sich im Sattel festbinden konnte. Die Leute sagten, niemand habe je mehr von Flugtieren verstanden als der alte Giebelsparr, und auf dieses Erbe war Giebelgaup stolz. Welchen Glanz hatte es schon, die hohen Gefilde auf einer fügsamen Ratte zu erkunden oder gar zu
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