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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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griff die Eule wieder an. Giebelgaup drehte sich um, wobei er, festgebunden hin oder her, fast aus dem Sattel rutschte, nahm Maß und stieß zu. Alles, was er ausrichten konnte, war, den knotigen Zeh der Eule oberhalb der Kralle zu ritzen. Der Vogel stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, flatterte wild und fiel wieder ein Stück zurück.
    Macht diesen Fehler nicht noch einmal, selbge,
dachte er.
Kommt aber wieder, darauf kannst du dich verlassen.
    Es war wie die schlimmsten Alpträume seiner Kindheit. Der kleine Giebelgaup hatte oft geträumt, dass er von Eulen und anderen Vögeln gejagt wurde, dass er mit schwachen, schweren Beinen über weite, freie Flächen rannte, während geflügelte Schatten immer dichter über ihm schwebten. Diesmal jedoch würde er nicht inmitten der beruhigenden, warmen Körper seiner Geschwister aufwachen.
    Giebelgaup hatte den Vogel jetzt mehrmals gesehen. Er hatte eindeutig keinen Reiter, verfolgte ihn aber dennoch unerbittlich weiter. War die Kreatur krank? Tollwütig? Jede andere Eule hätte längst aufgegeben.
    Noch zweimal kam ihm die Eule so nah, dass er sie mit seiner Klinge stechen konnte, das eine Mal wieder in den Fuß, das andere Mal in den mächtigen Flügel. Beide Male schrie der Vogel wütend auf, setzte die Jagd aber fort.
    Mockel schwanden die Kräfte; sie verlor an Höhe, kämpfte sich dann wieder zur Gangdecke empor, aber die Eule hatte den Moment genutzt und sich über sie gesetzt. Giebelgaup wusste, ihm blieben bestenfalls noch Augenblicke, also zog er die Flattermaus in den nächsten Spalt, der zu dem weiten Kamin zurückzuführen schien. Es war seine einzige Chance: Die Eule in dieser Enge über sich, würden er und sein erschöpftes Reittier die nächste Attacke nicht überleben.
    Erleichtert stellte Giebelgaup fest, dass er richtig vermutet hatte: Im nächsten Moment schossen sie ins weite, hallende Dunkel des riesigen Schachts hinaus, aber die Eule war jetzt direkt hinter ihm, und er konnte unmöglich vor ihr das obere Ende des Kamins erreichen ... falls es überhaupt ein oberes Ende gab. Er schwenkte auf die Kaminwand zu, in der Hoffnung, dort irgendwelche Vorsprünge zu finden, die ihnen etwas Schutz böten, aber es war immer noch weit bis zum Arbeitscamp der Funderlinge, und die Flattermaus konnte kaum noch die Flügel bewegen. Auch ohne die Eule würde Mockel nicht mehr lange leben, wenn sie sich nicht ausruhen konnte.
    Plötzlich fiel ein mächtiger geflügelter Schatten aus der Kaminwand auf sie herab. Giebelgaup war überrumpelt; er stach zu, aber der Stoß ging ins Leere. Die Eulenklaue schnappte zu, verfehlte die Flattermaus, erwischte aber Giebelgaups Sattelzeug und riss ihn roh von Mockels Rücken. Die Flattermaus schrie erschrocken auf und stürzte unter ihm weg, doch Giebelgaup stieg noch einen Moment weiter empor, als könnte er seinen verzweifelten Flug auch ohne Reittier fortsetzen. Dann endete die Aufwärtsbewegung, und er fiel, trudelte hilflos durchs Leere, abwärts, abwärts ...

    »Warum war ich hier noch nie?«, fragte die Prinzessin Chert auf dem Pfad das riesige Loch hinab, das er bei sich den Schlund nannte. »Wieso weiß ich nichts von einem Weg, der von meiner
eigenen
Familiengruft in die Tiefen der Erde führt?«
    »Dieser Weg wurde noch viel früher angelegt als die Sturmstein-Straßen, durch die ich Euch in die Hauptburg gebracht habe«, erklärte Chert. Im ganzen Irrsinn dieses Weltendes schien es eine fast schon alltägliche Mitteilung. »Meine Vorfahren in jenen frühesten Tagen hatten Angst, dass ...
Eure
Vorfahren uns in Funderlingsstadt einsperren könnten wie in einer Falle, genau wie wir's auch zu Sturmsteins Zeiten befürchtet haben. Wir wollten unsere eigenen Wege zu kommen und zu gehen.«
    »Ihr habt es getan, um gegen ein königliches Dekret verstoßen zu können?«
    »Mit Verlaub, Hoheit, Ihr hättet es auch getan, wenn der Pickel in der anderen Hand gewesen wäre, wie wir sagen. Jeder versucht, sich zu schützen. Darum haben wir Sturmsteins Straßen angelegt und auch diesen Weg hier.«
    »Erklärt es mir.«
    Chert tat es und fragte sich dabei die ganze Zeit, wie die Zukunft seines Volkes aussehen würde, falls es denn eine gäbe.
Wenn die Großwüchsigen alles über uns wissen, sind wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und ich habe eine Menge dazu beigetragen.
    »Weil ihr Angst vor uns hattet«, sagte sie tonlos, als er fertig war. »All die viele Arbeit, all die verletzten und sogar getöteten Leute, nur

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