Das Herz
verzweifelte Idee. Die Kraft rieselte aus ihm heraus wie trockener Sand aus einer Spalte zwischen Gesteinsschichten. Was kam es jetzt noch auf irgendetwas an? Er hatte so lange so vieles überdacht und befürchtet, aber er war nie auf die Idee gekommen, dass er in dieser letzten Stunde zu weit von allen, die er liebte, fort sein könnte, um auch nur mit ihnen zu sterben. Aberwitz. Es war alles ein einziger Aberwitz gewesen.
Prinzessin Briony blinzelte, nickte einmal kurz, drehte sich dann um und marschierte weiter den Pfad hinab. Chert riss sich zusammen. »Prinzessin? Wo wollt Ihr hin?«
»Was glaubt Ihr wohl, wo ich hinwill, Funderling?«, rief sie über die Schulter. Es klang, als hielte sie in diesem Moment nicht sonderlich viel von Chert Blauquarz. »Ich will mit meiner Familie sterben. Ihr mögt sterben, wie es Euch beliebt.«
»Aber Hoheit, wenn das Schießmehl funktioniert und der Fels herunterbricht ...!«
Sie drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihm um. Erstmals sah Chert, dass sich seit ihrer ersten Begegnung mehr an Prinzessin Briony verändert hatte als nur ihre Kleidung. Sie war nicht einfach nur älter geworden, sondern irgendwie ... tiefer. Stärker. Und etwas, das er jetzt in ihr sah, aber nicht benennen konnte, machte ihm Angst.
»Ihr seid ein Wagnis eingegangen, das einzugehen Euch nicht zukam, Funderling«, sagte sie. »Jetzt lasst mich tun, was ich tun muss.«
»Aber es ist doch bestimmt schon zu spät ...!«
»Still jetzt!« Sie trat einen Schritt auf ihn zu, und für einen Moment befürchtete Chert ernsthaft, sie würde ihm etwas tun. »Bis mein Vater den Thron wieder einnimmt, bin ich die Prinzregentin dieses Königreichs. Es ist meine Aufgabe, alle, die darin und darunter leben, zu schützen — aber Ihr und Eure Steinhauerkumpane habt mir das aus der Hand genommen. Jetzt lasst mich allein ... oder wenn Ihr mir diesen Gefallen nicht tut, haltet wenigstens den Mund.« Sie drehte sich wieder um und stapfte weiter ins Dunkel hinab, ein Messer in jeder Hand. Chert zögerte eine ganze Weile und rannte dann hinter ihr her.
Aesi'uah wartete, dass ihre Herrin aus den Traumlanden zurückkehrte. Die Tochter des alten Schlaf hatte die ganze Zeit geduldig gewartet: während Saqri und die anderen sich geopfert hatten, während das Ritual des Autarchen vorangeschritten war, ja selbst als die Entsetzensschreie durch die Höhle gehallt hatten und das seltsame, glühende Etwas auf der Insel zu wachsen begonnen hatte, als ob der Leuchtende Mann monströse, unsterbliche Fleischesgestalt angenommen hätte. Aesi'uah machte Warten nichts aus: Sie konnte wenig anderes tun. Sie war keine Kriegerin, sondern Eremitin, und konnte nur warten, bis ihre Herrin sie um Hilfe bat.
Yasammez' Augen öffneten sich, schwarz und tief, aber sie verharrte noch eine ganze Weile im Schneidersitz auf dem steinigen Boden am Fuß der Felswand unterhalb des Labyrinths. Endlich erhob sie sich.
»Ich werde jetzt sterben«, verkündete sie. »Nimm alle, die noch gehen können. Sorge dafür, dass sie meine teure Saqri und die anderen Verwundeten bergen und sich an die Oberfläche zurückziehen, so schnell sie können.«
Aesi'uah war sich ziemlich sicher, dass Saqri nicht mehr zu helfen war, aber sie verneigte sich gehorsam. »Was ist mit der Garde der Elementargeister? Ich fühle, wie sie Euch zu einer Antwort drängen.«
Yasammez schüttelte den Kopf. »Sie haben meine Antwort bekommen. Sie lautet
nein —
ich werde das Fieberei nicht benutzen. Der sterbliche Barrick Eddon hat mich etwas gelehrt.«
»Tatsächlich, Herrin?«
Yasammez' Lächeln war wie eine klaffende Messerwunde. Auf der Insel starben xixische Soldaten den Flammentod von der Hand eines triumphierenden Gottes; ihr Schreien klang wie ferne Vogelrufe. »Tatsächlich«, sagte sie. »Ihr kurzes Leben scheint ihnen so viel zu bedeuten, als handle es sich um die unendliche Dauer der Götter selbst — wenn nicht gar mehr. Welches Recht habe ich nach meiner eigenen langen Lebensspanne, ihnen das zu nehmen? Vielleicht werden sie sich ja sogar in irgendeiner Weise mit den zurückkehrenden Göttern arrangieren und ein Ende schreiben, das ich nicht vorhersehen kann. Unser Volk hat die Lange Niederlage erlitten, aber womöglich wird ihre Geschichte ja eine andere sein.«
Yasammez zog Weißfeuer aus ihrem Gürtel. Es schimmerte wie weiße Jade, wie ein herabgefallener Splitter des Mondes. Sie hielt es vor sich und musterte es. »Diese mächtige Klinge schwang einst vor
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