Das Herz
ehe er die Wände aus Stein und Erde auszumachen vermochte: Der enge Gang sah aus, als hätte man ihn an nur einem Tag roh durchs Erdreich gegraben.
Wo ...?,
fragte er sich, aber Saqris Gedanken legten sich sachte über seine und brachten sie zum Schweigen.
Gleich.
Das schwache Strahlen vor ihnen wurde stärker und war schließlich ein schimmernder Lichtkegel, die Grundfläche so rund und glänzend wie eine neue Münze. Im Näherkommen erkannte er, dass der Lichtkegel durch ein Loch in der Gangdecke hereinfiel und das funkelnde Rund am Boden die Oberfläche eines runden Bassins war. Es war nicht viel größer als ein Schreibtisch, aber gerade groß genug, um das ganze einfallende Licht zu reflektieren. Saqri blieb stehen und er ebenfalls.
Die Tiefe Bibliothek,
sagte sie.
Barrick hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte. Er hatte diesen Namen mehr als einmal von Ynnir gehört. Da hatte er gedacht, es sei irgendein Gewölbe tief im Fuß der Festung oder vielleicht eine mächtige Halle, voll mit alten Schriftrollen und zerbröselnden Büchern, ein bisschen wie die Bibliothek in Chavens Observatorium oder die Räume seines Vaters im Sommerturm.
Ohne Vorwarnung ergriff die Königin seine Hand, hob dann ihre andere Hand ins Licht und bedeutete ihm, dasselbe zu tun. Damit sein Arm bis ins Licht reichte, musste Barrick einen Schritt vortreten, und als er es tat, konnte er den senkrechten Schacht hinaufblicken und die Quelle des Strahlens erkennen, ein unglaublich fernes Loch im Dunkel und im Zentrum einen weißen Lichtpunkt.
Ja,
sagte Saqri.
Es ist Yah'stahs Auge, der Hoffnungsstern. Er steht immer über der Tiefen Bibliothek.
Barrick war verblüfft.
Aber ... aber ich habe doch seit Monaten keinen Stern mehr gesehen ...! Der Mantel —
das Wort kam einfach, wurde ihm von der Feuerblume emporgereicht wie ein kleiner Gegenstand, den er hatte fallen lassen —
der Mantel bedeckt doch das ganze Land ...!
Aber die Tiefe Bibliothek sieht nicht den Mantel,
erklärte ihm Saqri.
Sie sieht die Dinge, wie sie sind, oder zumindest, wie sie waren. Und das Auge ist immer über ihr. Und jetzt gib mir deine Gedanken und dein Schweigen.
Es braucht beide Erben der Feuerblume, um die Tiefe Bibliothek zu öffnen,
erklärten ihm die Stimmen — oder war es Ynnirs Stimme, die irgendwie alle anderen zu einer zusammenflocht?
Auch darum wäre das Volk für immer verkrüppelt gewesen, wenn wir jetzt dich oder Saqri verloren hätten.
Eine ganze Weile stand er einfach nur da, lauschte dem Murmeln der Feuerblume und fühlte die ungefähre Form von Saqris Gedanken, während sie die Anrufung knüpfte, einen Strang von Fragen, fast wie Rätselfragen für Kinder.
»Wer ist gegangen und bleibt doch?
Wer ist außerhalb und doch innerhalb?
Wer wird an den Ort zurückkehren, der nie verlassen ward ...?«
Er fühlte, wie sich die Präsenzen versammelten, noch ehe er die ersten silbrigen Gebilde sah, die sich in dem Lichtkegel formten wie Algenblasen in einem Teich. Sie kamen nirgendwoher — kamen aus dem
Nichts —,
doch sobald sie in dem Lichtkegel umherdrifteten, waren sie etwas. Sie lebten, zumindest ein wenig, sie dachten, sie erinnerten sich.
»Wir ehren die, die uns anrufen. Wir ehren Krummlings Haus. Wir ehren die Feuerblume.«
Die Stimmen in seinem Kopf waren wie das Geräusch tropfenden Wassers an einem dunklen Ort. Bei jeder Stimme, die sprach, auch wenn sie nur in Barricks Kopf zu hören war, bildete sich in dem Teich oder Brunnen zu seinen Füßen ein kleiner Wellenring. Bald überlagerten sich die Ringe.
»Fragt uns, und wir werden euch geben, was wir zu geben haben.«
»Das Haus des Volkes und Die letzte Stunde des Ahnherrn teilen keine von Krummlings Straßen mehr«,
sagte Saqri, und ihre lautlosen Worte schienen in dem Lichtkegel aufzusteigen wie Staubkörnchen.
»Wie lässt sich die Entfernung überwinden? Wie lässt sich die Kluft überbrücken?«
»In den alten Zeiten konnte einer der Hellsten in drei Tagen zu den Ahnen reiten — schneller noch, wenn sein Reittier nicht erdverhaftet war.«
»Ja«, sagte Saqri, einen Hauch von Bitterkeit in der Stimme, »und damals konnten die Götter auch duftende Öle aus der Luft pressen und Steine zum Blühen bringen. Diese Zeiten sind vorbei. Die mächtigen Rösser haben längst ihre Wege verlassen und sich in ferne Länder geflüchtet. Diejenigen, die auf Großmutter Leeres Straßen reisten, können nur dorthin gelangen, wohin ihnen der Weg nicht versperrt ist — und der Weg
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