Das Herz
dorthin, wo wir jetzt hinwollen, ist uns versperrt.«
Es war unsagbar seltsam, vor der Tiefen Bibliothek zu stehen, die Stimmen zu hören und zu sehen, wie sich die Oberfläche des Bassins kräuselte, als träfen sie unsichtbare Regentropfen. Es war anders als die Stimmen der Feuerblume in seinem Kopf, chaotischer und weniger wie ein Gespräch unter Menschen, aber unter Saqris Lenkung ging es nicht über das hinaus, was er aufzunehmen vermochte, auch wenn er unmöglich alles verstehen konnte.
»Es sind schreckliche Dinge im Wind«,
murmelte die Stimme der Tiefen Bibliothek.
»Die verbotenen alten Straßen, der sterbende Gott, die Pläne des Sterblichen aus dem Süden, die selbst den Himmel zittern machen ...«
»Und Yasammez hat ein Fieberei«,
sagte eine andere Stimme in klagendem Singsang.
»Das Ende muss wahrhaftig nah sein. Vielleicht hat selbst die dunkle Fürstin doch noch die Verzweiflung entdeckt.«
»Die Straßen sind noch da, wenn euch nur die Götter einen Weg öffnen würden«,
seufzte eine andere.
»Halt!«, sagte Saqri, und ihre Stimme war wie ein Peitschenknall. »Die Götter selbst schlafen! Das wisst ihr, denn es ist schon euer halbes Dasein so! Und selbst wenn sie für uns nicht unerreichbar wären, jetzt, da Krummling im Sterben liegt und die übrigen träumen, sind doch die Mächtigsten unter ihnen unsere Feinde! Die Drei Brüder und ihr Gefolge hassen uns. Das ist ja ein Grund für die Verzweiflung meiner Urgroßtante.«
»Dann ist alles verloren«,
wisperte eine der Stimmen der Tiefen Bibliothek, und ein ganzer Chor stimmte ihr zu. Die Gesichter formten sich und verschwanden, wallten im Moment ihrer Existenz durcheinander wie Gewächse in einem wirbelnden Fluss.
»Alles verloren!«,
murmelten sie.
»Beinah«,
sagte eine Stimme.
»Hassen sie die Sterblichen auch?«
Saqri hob jäh die Hand.
»Kann ich sie entlassen?«, fragte sie. Barrick brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie ihn fragte. Offenbar brauchte es beide Hälften der Feuerblume, um die Tiefe Bibliothek zu entlassen, genau wie für ihre Heraufbeschwörung.
Er hob die Hand ins Licht und ließ sie tun, was zu tun war.
Sie gingen wieder zurück. Barrick hielt Saqris Schweigen für Niedergeschlagenheit.
»Was tun wir jetzt?«, fragte er schließlich. »Meine Leute — die Leute von Südmarksburg — Eure Leute — sie werden alle umkommen«
»Wenn wir sie nicht aufhalten können, dürftest du wohl recht haben.«
Er konnte nicht fassen, dass sie so gelassen war. »Aber wir können sie doch nicht aufhalten! Wir sind am anderen Ende der Welt, und Ihr habt doch gehört, was die Tiefe Bibliothek gesagt hat — es gibt keine Straßen mehr, die wir benutzen können.«
»Nicht ganz.« Saqris Gedanken kamen langsam, fast zögerlich, als ob sie immer noch mit den Details eines Bildes in ihrem Kopf beschäftigt wäre. »Sie haben gesagt, die Straßen der Götter sind noch verfügbar.«
»Aber die mächtigsten Götter hassen die Qar — das habt Ihr doch selbst gesagt. Was nützt uns das dann?«
»Ah ja, es mag sein, dass die Götter die Qar hassen«, sagte Saqri, eine unsichtbare Gestalt neben ihm im Dunkel, »aber ich wüsste doch gern, wie sie zu euch Menschen stehen.«
5
Jäger der Felstiefen
»...
Doch zu jener Zeit waren die Krakischen Berge eine wilde, gesetzlose Gegend. In das Tal, in dem Adis mit seinen Eltern lebte, fiel, während der Knabe bei seiner Herde war, eine Räuberbande ein; sie töteten seine Eltern und raubten das Wenige, das die Familie besaß.«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
»Ich bin erschöpft und traurig«, sagte Olin Eddon. »Warum muss ich hier bleiben? Ich habe die Schiffe einlaufen und Tausende von Soldaten an Land gehen sehen. Ja, der Autarch hat mehr als genügend Macht, um mein armes Land zu demütigen. Aber welchem Zweck soll das hier dienen?«
Pinnimon Vash blickte zum Deck des letzten und größten Versorgungsschiffes, das gerade Anker warf. Der Vormann der Entlademannschaft gab ein Armsignal, um den Obersten Minister wissen zu lassen, dass es jetzt losging. Auch auf anderen Schiffen wurde die Fracht gelöscht — der einstige Hafen von Südmarkstadt war nunmehr das Versorgungszentrum der Zeltstadt des Autarchen, die sich das Buchtufer entlangzog —, doch diesem letzten Schiff galt das besondere Interesse des Autarchen.
»Der Goldene selbst hat verfügt, dass Ihr von hier aus zuschauen sollt, König Olin«, sagte Vash, so
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