Das Herz
schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass die Schlacht bereits verloren war. »Ich kann nicht einfach zur Prinzregentin der Markenlande gehen und sagen, ›Ihr müsst unseren Sohn finden‹. Sie wird denken, ich bin verrückt.«
»Sie wird denken, du bist ein Vater.« Opalia machte dieses Gesicht, das sie öfters machte, wenn etwas beschlossene Sache war, obwohl nur sie es beschlossen hatte. »Sie hatte doch selbst einen Vater — hat ihn ja gerade erst verloren. Sie wird es verstehen.«
Chert seufzte. Flints Abwesenheit war furchtbar schmerzlich, aber die Herrscherin von Südmark um Hilfe anzuflehen, würde bestimmt nichts nützen. Wenn Flint noch lebte, würde ihn niemand finden, es sei denn, er wollte gefunden werden. Ein neuer Gedanke machte ihn frösteln. Wenn sie Flint nun nie fanden, würde Opalia dann je wieder glücklich sein?
»Natürlich gehe ich zu ihr«, war das, was er laut sagte. »Natürlich, meine Einziggeliebte.«
Von ihrem Spaziergang auf der Mauer kehrte Schwester Utta erquickt zurück. Es tat gut, so viele Menschen bereits am Wiederaufbau von Südmarksburg arbeiten zu sehen, obwohl es natürlich noch lange dauern würde, bis die Wunden des Krieges auch nur einigermaßen verheilt wären — vor allem die in den Herzen der Menschen. Aber jetzt roch die Luft nach Sommer, und das war schon mal gut. Am Tag, nachdem das Meer hereingebrochen war und die tiefsten Höhlen unter der Burg geflutet hatte, waren schwarze Wolken am Himmel über Südmark aufgezogen und hatten Regen herabgeschüttet, als wollten sie alles, was über der Erde war, ebenfalls ertränken. Nach den Sturzregen spross jetzt bereits frisches Grün zwischen dem Gesteinsschutt und aus der zerfurchten, nackten Erde des äußeren Palastgartens.
Wie um diesen allgemeinen Eindruck der Wiederherstellung zu unterstreichen, saß Merolanna im Bett und trank Suppe, die ihr eine ihrer Dienerinnen gebracht hatte. Vor wenigen Tagen noch hatte die Herzogin an der Schwelle des Todes gestanden, heute jedoch ging es ihr so viel besser, dass Schwester Utta keine Bedenken gehabt hatte, die Pflege anderen zu übertragen und eine Weile das Haus zu verlassen.
»Utta!« Merolanna schob das Schälchen mit zittriger Hand weg und schüttelte streng den Kopf, als das Mädchen ihr noch mehr Suppe aufdrängen wollte. »Ich habe schon gefragt, wo Ihr steckt, meine Liebe. Ich fühle mich, als käme ich von einer langen Reise zurück. Schnell, erzählt mir, was es Neues gibt — ist es wahr, dass Hendon Tolly und seine Kumpane weg sind?«
»Tolly ist, nach allem, was man hört, tot«, sagte Utta und setzte sich auf die Bettkante. »Aber Ihr solltet Euch jetzt wieder hinlegen und ausruhen. Zum Reden haben wir noch viel Zeit.«
»Unsinn. In meinem Alter?« Merolanna lachte, wenn auch ihre Stimme immer noch dünn und schwach war. »Nun ja, ich jedenfalls habe Neuigkeiten! Ich habe meinen Sohn getroffen.«
»Was?« Uttas Herz, das eben noch so froh gewesen war, weil es ihrer Freundin so viel besser ging, gefror jäh. War es immer noch das Fieber, oder war dieser Irrsinn etwas anderes, Tieferes, etwas, das nicht weggehen würde, selbst wenn die Herzoginwitwe wieder gesund würde? »Ihr habt ihn gesehen?«
»Nicht nur gesehen, getroffen! Er war hier bei mir?« Die alte Frau lachte wieder, zog dann die Augenbrauen zusammen, als ihr die Dienerin ein wenig Suppe vom Kinn tupfen wollte. »Lass das, Mädchen. Und Ihr, Utta, schaut nicht so skeptisch. Eurem Gesicht kann ich entnehmen, dass Ihr denkt, das wäre ein Zeichen meiner Angegriffenheit oder vielleicht ein Fall von Fieberwahn, aber es ist weder noch. Er war letzte Nacht hier an meinem Bett, nachdem Ihr schlafen gegangen wart. Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Er hat sich sogar an seinen richtigen Namen erinnert, den Namen, den nur ich kenne ... Adis.« Sie sah ein wenig verlegen drein. »Ja, ich habe ihn nach dem heiligen Waisenknaben benannt. Aber auch das hat ihn nicht geschützt — die Zwielichtler haben ihn dennoch geraubt.«
Jetzt fragte sich Utta, ob Merolanna auf irgendeinen geschäftstüchtigen Betteljungen hereingefallen war, der eine Gönnerin aufgetan zu haben glaubte, die ihm den weiteren Lebensweg mit Goldstücken bestreuen würde. Utta war sich nicht sicher, was sie in diesem Fall tun würde. »Kommt er dann hierher? Habt Ihr ihn eingeladen, bei Euch zu wohnen?«
»Natürlich habe ich das. Aber er ist zu beschäftigt. Er war nämlich sehr aktiv im Krieg gegen die Zwielichtler.«
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