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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ehrfurchtgebietend dreinzusehen wie eine richtige Monarchin. Ach, aber Euch zu sehen tut gut.«
    »Und umgekehrt, Hoheit.« Utta betrachtete sie voller Zuneigung.
    Briony fand es tröstlich, dass es immerhin ein paar Dinge gab, die sich nicht verändert hatten.
    Utta führte Briony an Merolannas Bett. Briony war zwar vorbereitet, aber der Anblick ihrer Großtante war dennoch ein Schock: Vor Monaten noch war die Herzoginwitwe das Inbild der vitalen alten Frau gewesen; jetzt schien sie nur noch die Hälfte ihrer selbst, Augen und Wangen waren eingesunken, als ob sie schrumpfte wie eine in der Obstschüssel verfaulende Frucht. Doch der Blick der alten Frau war immer noch hellwach, und als sie Briony sah, schaffte sie es, sich auf die Ellbogen hochzustützen.
    »Preis den Dreien!«, sagte sie. »Utta, schiebt mir diese Kissen in den Rücken, damit ich meine liebe Briony richtig anschauen kann.« Merolanna schüttelte den Kopf. Sie trug nur eine Bundhaube statt wie sonst immer eine Perücke und aufwändigen Kopfschmuck — selbst ihr Kopf schien kleiner geworden. »Komm her und erzähl mir alles. Dein armer Vater! Ach, was hatten wir hier für schreckliche Zeiten! Aber jetzt wird alles wieder besser.«
    Briony war immer noch verwirrt. Es war, als hätte eine andere Schauspielerin die Rolle übernommen — ihre Großtante wirkte zehn Jahre älter als am letzten Winterfestabend.
    »Ja«, sagte sie. »Natürlich, Tante 'Lanna. Jetzt wird alles wieder besser.«
    »Ihr seht schön und stark aus, Hoheit«, hatte Rose Trelling gesagt. Brionys andere Zofe Moina war schon vor Monaten auf den Besitz ihrer Familie im Osten zurückgekehrt, aber Rose war bei ihrem Onkel Avin Brone in Südmark geblieben und erfüllte jetzt wieder mit Feuereifer ihre Zofenaufgaben. Sie machte den Verschluss der schweren Halskette zu, die auf der blassen Haut ihrer Herrin so grell zu funkeln schien wie eine Kette von Sternen.
    »Ich fühle mich weder noch«, sagte Briony, während sie sich im Spiegel inspizierte. »Schon gar nicht heute, da ich meinen Vater begraben muss.« In dem mächtigen, steifen Kleid, fand sie, sah sie aus wie ein Schiff unter vollen Segeln — und nicht wie eine schnelle Brigg. »Eine Kaufmannskaracke«, sagte sie. »Die schwerbeladen dahinschaukelt.«
    »Hoheit?«
    »Nichts.« So gern Briony auch wollte, dass alles wieder so wäre wie früher — Wünschen allein half nichts. In Roses liebes, offenes Gesicht zu blicken, erinnerte sie an Brone, den Onkel des Mädchens. Es nahte der Moment, da sie ihn mit dem konfrontieren musste, was der Stückeschreiber Teodorus gesehen hatte. Natürlich wusste König Olins engster Ratgeber, dass etwas nicht stimmte, das zeigte die Art, wie er sie ansah, aber sie brachte es nicht fertig, ihn noch vor der Beisetzung ihres Vaters zur Rede zu stellen. Aber danach ließ es sich nicht länger hinausschieben. Wenn dieser Mann, wie ihr immer sicherer schien, ein Feind war — war es dann nicht gefährlich, ihn frei herumlaufen zu lassen, obwohl er ahnen musste, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war? Nein, heute Abend, nach der Beisetzung, würde sie es erledigen.
    »Schickt nach Jem Fetter, dem Kommandeur der königlichen Garde«, befahl sie einem Pagen. »Ich habe noch eine Stunde bis zur Trauerfeier, also möchte ich ihn jetzt sofort sprechen.«
    »So haltet doch still!«, schimpfte Rose, während der Junge hinauseilte. »Wenn Ihr mich diese letzte widerspenstige Locke nicht zähmen lasst, habt Ihr eine Haartracht wie ein Bettelweib!«
    Zu Brionys Erstaunen war es nicht Jem Fetter, der der Einbestellung nachkam.
    »Prinzessin«, sagte Ferras Vansen und fiel noch an der Tür aufs Knie. »Ich habe Euren Befehl vernommen und bin an Fetters Statt gekommen. Wenn das falsch war, bitte ich um Entschuldigung.«
    Sie seufzte, wenn auch nicht so laut, dass er es hören konnte. »Entschuldigungen scheinen Eure Spezialität zu sein, Hauptmann Vansen. Glaubt Ihr denn, so viel Grund zu haben, Euch zu entschuldigen?«
    Er wurde ein wenig rot. »Mehr als mir lieb ist, Hoheit. Ich habe übertrieben, als ich behauptete, ich hätte Euch Euren Bruder zurückgebracht. In Wahrheit habe ich ihn in den Schattenlanden zurückgelassen, wenn auch nicht freiwillig. Nach Südmark zurückgebracht hat er sich selbst.«
    Es war sonderbar, wie sehr er sie an Barrick erinnerte — nicht vom Aussehen, von der Art zu sprechen oder vom Verhalten her, in alldem hätten sie unterschiedlicher nicht sein können, nein, wegen des

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