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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Gefühls, das er in ihr auslöste: Ärger und Zuneigung zugleich. Aber ihm gegenüber fühlte sie noch etwas anderes, etwas, das sie für ihren Bruder nie empfunden hatte, und sie wusste nicht, was sie damit machen sollte. Und dann war da ja Eneas, der immer noch auf eine Antwort wartete ...
    Sie tat ihr Bestes, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Ich brauche heute Abend Garden, nach der Beisetzung. Könnt Ihr dafür sorgen, dass ein Trupp zu mir in den neuen Thronsaal kommt?«
    »Ins Zelt?« Er wurde wieder rot. »Entschuldigung, ich meinte es nicht abfällig ...«
    Sie lachte. »Es
ist
ein Zelt. Ihr sagt nur die Wahrheit.«
    »Gewiss, Hoheit. Eine halbe Fünfzigschaft Eurer besten Männer werden dort sein — ich sorge dafür.« Er erhob sich und wollte sich rückwärts durch die Tür entfernen, aber sie hob die Hand.
    »Wir haben in diesem letzten Tagzehnt noch kaum miteinander gesprochen, Hauptmann Vansen. Ich werde einen der Pagen einen Stuhl bringen lassen, dann könnt Ihr Euch hinsetzen und mir ausführlicher erzählen, was Ihr durchgemacht habt.« Sie gab einem der Knaben ein Zeichen. »An dem, was sich hier ereignet hat, ist so vieles, was ich immer noch nicht verstehe.«
    »Niemand von uns versteht es wirklich, Hoheit«, sagte er ernst. »Ich denke, wir wüssten mehr, wenn wir alle hören könnten, die hier gekämpft haben, die Funderlinge, die Oberirdler und sogar die Qar und die Xixier ...«
    »Oberirdler? Was heißt das?«
    »Verzeiht, Prinzessin. So nennen uns die Funderlinge — ›Oberirdler‹ oder auch ›Großwüchsige‹. In der Zeit bei ihnen habe ich schon fast vergessen, dass ich kein Funderling bin — obwohl ich doppelt so groß bin wie sie!«
    »Dann erzählt mir von ihnen, Hauptmann. Und erzählt mir auch von meinem Bruder und von dem, was ihm und Euch in den Schattenlanden widerfahren ist. Erzählt mir, so viel Ihr könnt. Ich begrabe heute Nachmittag meinen Vater, und ich fürchte mich davor.«
    »Ich werde mir nie verzeihen, dass wir ihn nicht retten konnten«, sagte Vansen mit gesenktem Blick.
    »Genug. Ihr habt mir seinen Leichnam gebracht. Und ich habe selbst noch einmal mit ihm sprechen können, vor jenen letzten Tagen.«
    »Tatsächlich?« Er hatte offensichtlich nichts davon gehört.
    »Ja. Also lasst uns reden, Hauptmann Vansen.« Sie blickte auf die Dienerinnen und Zofen, das halbe Dutzend Pagen, das Leben, das sie wieder gefangen hielt. »Ich fürchte, die Gelegenheit kommt vielleicht nicht wieder.«
    Vansen war zwar normalerweise kein großer Redner, aber die Geschichte riss ihn mit: Als er am Ende seiner Schilderung der letzten Stunden in den Funderlingsmysterien anlangte, hatten sich alle in Brionys Gemächern, Bedienstete wie Adlige, um ihn geschart und lauschten mit offenen Mündern und furchterfüllten Gesichtern. In dem Maße, wie er sich für sein Thema erwärmte, ließ er jenen trockenen Humor aufblitzen, den er normalerweise verbarg, und obwohl er seine eigene Rolle herunterspielte, bemerkte Briony die vielen Stellen, an denen er die Verdienste anderen zuschrieb. Es erinnerte sie ein bisschen an ihren Vater, wenn er von seinem Kriegsjahr in Hierosol erzählt hatte, und das wiederum erinnerte sie an die wesentlich unangenehmere Aufgabe, die vor ihr lag.
    »Danke, Hauptmann Vansen«, sagte sie, als er innehielt, um aus einem Becher mit Wein zu trinken, den ihm eine ihrer Dienerinnen hingestellt hatte. »Es ist eine Gnade des Himmels, dass unser geliebtes Südmark überlebt hat, aber wir haben so viele Leute verloren.« Sie schüttelte den Kopf »Meinen Vater, den guten Chaven, all Eure tapferen Funderlinge und noch so viele andere.« Sie bemühte sich zu lächeln, aber es war schwer. »Jetzt ist es Zeit, zur Trauerfeier zu gehen. Ihr vergesst doch nicht Euer Versprechen?«
    Er sah sie verdutzt an. »Verzeihung, Hoheit? Versprechen ...?«
    »Dafür Sorge zu tragen, dass die königlichen Garden nach der Beisetzung zu mir kommen?«
    »Ah.« Er schien erleichtert und enttäuscht zugleich. Was hatte er erwartet? Irgendeine peinliche Dankbarkeitsbezeugung? Hatte sie sich doch getäuscht, was seine Gefühle für sie betraf? Nicht dass es irgendeine Rolle spielte. Jetzt, da Olin tot war und ihr Bruder entschlossen, Südmark zu verlassen, hatte sie kein Recht auf eigene Herzensregungen mehr, das war ihr klar — jetzt gab es für sie nur noch das, was gut für das Land und das Volk war. »Natürlich, Hoheit«, sagte er. »Ich werde veranlassen, dass Eure Garden nach

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