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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Die alte Frau runzelte die Stirn. »Oder war es der Krieg gegen die Südländer! Ich weiß nicht mehr genau. Auf jeden Fall hat er zu viel zu tun, um hier bei einer alten Frau herumzusitzen. Aber er hat sich kaum verändert, seit er damals verschwunden ist! Stellt Euch vor!«
    Jetzt fröstelte Utta wirklich. »Aber Merolanna, sein Verschwinden ... das ist fünfzig Jahre her.«
    »Ich weiß. Ist es nicht mysteriös und wundersam?« Die Herzoginwitwe lehnte sich in die Kissen. »Aber wie dem auch sei, ich bin froh, und er hat mir versprochen, ich würde ihn wiedersehen. Jetzt erzählt mir, was alles passiert ist, während ich krank war. Ich hungere nach mehr als nur Suppe ...!«

    Barrick blickte auf das Gesicht des Mädchens hinab, das so vertraut und doch so fremd war. Vorhin erst hatte Briony in dieser Felskammer gestanden, und auch sie war ihm als eine unbegreifliche Mischung aus Bekanntem und gänzlich Fremdem erschienen. Konnte sie wirklich seine Zwillingsschwester sein, mit der er sich so eng verbunden gefühlt hatte, dass sie ihm wie ein Teil seiner selbst erschienen war? Und konnte Qinnitan, die hier, nur von wenigen Kerzen erhellt, wie eine Tote vor ihm lag, wirklich eine Fremde sein, die er bis zu jenem Moment in den Mysterien nie leibhaftig gesehen hatte?
    Qinnitan? Kannst du mich hören?
Er entleerte sein Denken von allem anderen — Saqri, Briony, allem, was geschehen war, seit sich der letzte Frühlingsmond zu runden begonnen hatte — und versuchte es noch einmal.
Qinnitan. Ich bin's, Barrick. Ich brauche dich. Ich muss mit dir sprechen.
Doch es regte sich nichts in jenem fernen Winkel seines Denkens und Fühlens, den sie einst bewohnt hatte.
Qinnitan!
    Er setzte sich neben sie. Die Feuerblumenstimmen, träge und schläfrig wie Bienen bei Sonnenhitze, murmelten in ihm von der Kammer der Totenwache, vom ruhigen, würdevollen Hinübergehen ins Jenseits, aber er wollte es nicht hören. In diesem Fall bedeutete das Wissen der Qar-Könige wenig: Das, was jetzt geschah, war noch nie da gewesen. Ohne die beiden Hälften der Feuerblume würde es keine Tiefe Bibliothek mehr geben, und die Stimmen dort würden in isolierten Wahnsinn auseinanderdriften. Qinnitan würde ihn verlassen. Saqri würde ebenfalls verschwinden. Bald würde in seinem Kopf nichts mehr sein außer der Feuerblume.
Alle weg, schon über den Fluss oder noch am Ufer, darauf wartend, jene dunklen Wasser zu durchqueren.
Selbst Ynnir hatte ihn so gut wie verlassen und tummelte sich in den fernen Auen, um wohin auch immer weiterzuziehen, sobald die irdische Blutslinie erloschen war.
    Die Idee kam wie ferne Musik — nur ein Geräusch unter anderen Geräuschen zunächst, doch eins, dessen Melodie sich schließlich über alles Zufälligere und Bedeutungslosere erhob.
Ynnir. Die Auen. Der Fluss ...
    Barrick versank in sich selbst und dachte nach. Die Kerzen brannten herunter, manche schließlich so weit, dass sie flackerten und erloschen, aber er saß immer noch neben der reglosen Gestalt des dunkelhaarigen Mädchens und überlegte.

47

Tod den Eddons
    »... Also fasste sie ihn an der Hand, aber Kernios schickte die furchterregenden Geister der Toten aus, sie zu hetzen ... Zoria beeilte sich so sehr, dass sie nicht ein einziges Mal nach dem Waisenknaben sah, und der schrie nicht auf und gab auch sonst keinen Laut von sich ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    Briony wusste, sie hätte sich für das Treffen richtig ankleiden sollen, aber es war bequemer, die Gemächer der Herzogin einfach in Morgengewand und -haube aufzusuchen, nur von einer ihrer Zofen begleitet.
    Es ist wie früher, als ich klein war,
dachte sie — aber das war es natürlich nicht.
    Utta öffnete ihr die Tür. Die Zorienschwester schien nicht zu wissen, ob sie sich vor ihr verneigen oder sie umarmen sollte. Briony nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie die Arme ausbreitete. »Oh, bitte, Utta, behandelt mich nicht wie eine Fremde! Nicht auch das noch, nach allem, was geschehen ist!«
    Die alte Frau lächelte und umarmte sie. Wie die meisten Burgbewohner war auch Utta dünner geworden: Die Belagerung der letzten Monate hatte ihre Spuren hinterlassen.
    »Ich freue mich ja so, Euch zu sehen, Prinzessin«, sagte Utta. »Aber wie wir alle trauere ich um Euren Vater.«
    »Natürlich.« Briony wischte sich die Augen und lachte. »Ich habe das Gefühl, ich bemühe mich den ganzen Tag, entweder nicht zu weinen oder aber so streng und

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