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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Barrick verblüfft.
    »Keineswegs«, sagte die Königin. »Nicht dass ich wüsste jedenfalls. Anglins Vorfahren waren Fischer, aber auch tapfere Kämpfer, und sie erlangten ihre Herrschermacht durch Klugheit und Stärke. Götter hatten damit nichts zu tun — nicht direkt zumindest.« Lächelte sie? »Aber deine Familie sieht Erivor schon lange als ihren besonderen Schutzpatron an und hat ihm zu Ehren viele Feste und Opferzeremonien veranstaltet, Jahrhundert für Jahrhundert. Es könnte sein, dass er dich erhört, nicht weil du Krummlings Blut in dir hast, sondern weil du ein Eddon bist und die Eddons ihm so lange so großzügige Gaben dargebracht haben.«
    Barrick wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. »Aber ... aber Ihr sagt doch, er schläft!«
    »Der Schlaf der Götter ist nicht wie anderer Leute Schlaf«, erklärte sie. »Und seit deine Familie zu ihm betet und ihm opfert, hat er immer geschlafen, tausend Jahre und länger.« Jetzt lächelte sie eindeutig, ein winziges Heben der Mundwinkel. »Also bete, Barrick aus dem Hause Eddon. Fall auf die Knie und bete zu eurem alten Stammesgott. Bitte ihn, uns einen Weg zu öffnen.«
    Machte sie sich über ihn lustig?
    »Auf den Knien?«
    Sie nickte. »Das stellt die richtige Perspektive her. Im Umgang mit Göttern ist Höflichkeit vonnöten, und Höflichkeit ist letztlich die Anerkennung von Macht — der wahren Macht beider Gesprächsparteien.«
    »Aber ich habe doch gar keine Macht!«
    Saqri machte sich nicht die Mühe, dem zuzustimmen.
    Barrick ging auf die Knie. Er konnte nicht umhin zu bemerken, wie viel leichter das ohne die Schmerzen in seinem Arm war und wie viel bequemer, jetzt, da die Schrammen und Kratzer der Reise allmählich heilten.
    Bitte ihn ...
sagte jemand leise in seinem Kopf; er hatte keine Ahnung, ob es Saqri war oder eine der körperlosen Stimmen.
Bitte den Meeresherrn ... den Weg zu öffnen ...
    Barrick schloss die Augen, unsicher, was er tun sollte. Er hatte unzählige Male gebetet, vor allem als Kind — oh, wie er darum gebetet hatte, dass die Alpträume aufhörten, dass sein Arm heilte, dass er spielen könnte wie die anderen —, aber noch nie mit einem so ungewöhnlichen Anliegen. Er versuchte sich an die Riten an Vater Erivors heiligen Tagen zu erinnern, aber mit wenig Erfolg.
    Vater Erivor ... so hatte ihn Barricks Vater fast scherzhaft genannt. »Vater Erivor stehe uns bei mit all seinen flinken Fischen!«, hatte der König gebrummt, wenn ihn eins seiner Kinder zur Verzweiflung trieb.
    Warum hast du mich in meinem Leiden allein gelassen, Vater? Warum?
Es war ja schon schlimm genug, was Olin getan hatte — den eigenen Sohn die steile Turmtreppe hinunterzustoßen —, aber warum hatte er hinterher kaum je darüber gesprochen? Aus Scham? Oder weil er mit seinen eigenen Problemen und denen des Königreichs zu viel zu tun gehabt hatte?
    Vater Erivor. Barrick versuchte sich zu erinnern, was er damals gedacht hatte, als der Name noch für jemanden gestanden hatte — nicht nur für das Bild auf der Wand der Kapelle, den blaugrünen, bärtigen Riesen, dessen Kopf silberne Fische umgaben wie die Strahlen der Morgensonne, sondern für eine Gestalt, die er im Geiste sah, wenn sie alle die Köpfe neigten und Vater Timoid das Gebet zum Schutzpatron der Familie anführte.
    Großer Erivor, Herrscher der grünschimmernden Tiefen ...
    Als Kind hatte sich Barrick vorgestellt, wie der Gott sich langsam über den Meeresgrund bewegte, so langsam wie die mächtigen Schildkröten oder die uralten Hechte in den Burgteichen und gewandet in wallenden Tang.
    Großer Erivor, der du uns gesegnet hast vor den anderen ...
    Es war seltsam, aber Barrick konnte nicht mehr sagen, ob seine Augen geschlossen oder offen waren. Er glaubte zu hören, wie der Wind die Wellen schaumig peitschte.
    Großer Erivor, der du die Wogen glättest und unsere Netze mit deinen Gaben füllst, der du den mächtigen Walfisch reitest und die weltumgürtende Schlange zähmst, höre uns!
    Das Dunkel wirbelte. Das Dunkel war jetzt durchsetzt mit grünem Licht und flirrenden, hellen Formen.
Großer Erivor, der du den vielarmigen Xyllos erschlugst

Und den gewaltigen Kelonesos in die Tiefe zurücktriebst,

Auf dass er den Seeleuten nicht mehr auflauere!

Erivor, der du den Sturm stillst! Erivor, Herr der Meereswinde!

Herr des versunkenen Goldes! Bewahrer des Schatzes!

König der Weltenwasser! Retter der Reisenden!

Höre mich!
    Das Dunkel wurde tiefer, grüner, noch stiller. Der Wind, der eben

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