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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wollte sich auch gar nicht wirklich widersetzen. Ging es empor? Nein, abwärts ...
    Ihr Gesicht erschien dicht vor seinem, glatt und hell, hart wie das einer Statue, grün wie südländische Jade. Einen traumartigen Moment lang dachte er, es sei seine Mutter — Meriel, die Mutter, die er nie gesehen hatte, weil sie bei seiner Geburt gestorben war. Die Erscheinung vor ihm hob die Hand und fing eine Luftblase von der Größe eines Enteneis; unter der Berührung ihrer schlanken Finger wuchs die Luftblase, bis sie so groß war wie eine Rubinmelone. Er konnte sie kaum sehen, fühlte sie aber an seinem Gesicht, so kühl und zart wie ein erster Kuss. Frische Luft presste sich in seinen Brustkorb anstelle des Wassers, das ihn beinah erstickt hatte, und plötzlich war das Dunkel von Lichtstrahlen durchdrungen, und seine Gedanken erwachten wieder zum Leben.
    Tu nichts, Menschenkind — atme einfach nur.
Saqris Stimme war zuerst fern, aber bei den letzten Worten füllte sie bereits sein Denken aus.
Wir müssen dem Gott danken, selbst wenn er nur schläft und uns träumt. Erst recht, wenn er uns nur träumt ...
    Barrick hatte keine Ahnung, was sie meinte. Er war es zufrieden, dahinzudriften und die Süße der Luft zu schmecken, während um ihn herum das Grün tiefer und weiter zu werden schien, bis er auf allen Seiten Formen zu sehen glaubte, Säulen und Bögen. Er konnte nicht sagen, ob sie natürlich waren oder das Werk einer übernatürlichen Hand — ja er war sich noch nicht mal sicher, ob er sie wirklich sah.
    Doch hinter den senkrechten Schatten war einer, der tiefer und dunkler schien als die übrigen — eine Höhle? Eine Halle? Einen Moment lang, als ein wenig Licht von oben durch das Grün herabdrang — und er zum ersten Mal wusste, wo »oben« war —, meinte er, eine mächtige Gestalt dort im Dunkel lehnen zu sehen, so groß und so fremdartig, dass er sich kaum zwingen konnte, in ihre Richtung zu blicken, geschweige denn genau hinzuschauen.
    Sag's ihm,
sagte sie.
    Was? Trotz der Luftblase über seinem Gesicht, die jetzt zwar schrumpfte, aber seine Lunge noch immer mit Leben füllte, hatte er Mühe zu atmen. Etwas war dort in der Höhle, etwas unvorstellbar Riesiges und Mächtiges und Lebendiges, und er hatte schreckliche Angst ...
    Sag's ihm!
    Ich ... wir ... danken dir. Danke, Meeresherr Erivor. Beim ...
Ihm fiel nichts ein — all die vielen Stunden, die er gelangweilt in der Kapelle gesessen hatte und nie auf die Idee gekommen wäre, dass dieser Moment eintreten könnte. Warum hatte er nicht besser aufgepasst?
Beim Blute ... meiner Vorfahren, die dir stets dienten, o Herr, und über die du deine Gaben ausgeschüttet hast ...
Nein! Falsch! Das war das Erntedankgebet an Erilo!
    Etwas regte sich in der Tiefe des Schattendunkels; selbst unter der ungeheuren Last des Wassers, das von allen Seiten auf ihn eindrückte, spürte es Barrick bis ins Mark. Was es auch war, es war unruhig geworden. Wach und zornig könnte es Berge einreißen.
    Mit der Panik stieg noch etwas in ihm empor — nicht der Feuerblumenchor, der jetzt fast schon normal war, sondern eine andere Stimme, dünn und zittrig — eine Erinnerung an Vater Timoid, wie er die Erivormesse sprach, Worte, von denen Barrick gar nicht gewusst hatte, dass er sie kannte.
O Vater der Wasser
Der du zum Bart hast die weiße Welle
Und zum Blute das grüne Nass
Der du das Land erstehen ließest
Du Herr der Fluten
Und Vater der Tränen
Der du Connord und Sharm
Aus dem Schlick erhobst
Und Ocsa und Frannac
Aus dem Tang ans Sonnenlicht
Auf dass die Menschen lebten
Und die Gräser sprossen
O Vater der Wasser
Der du die Stürme stillst
Und die Boote zurückgeleitest
Der du den Kindern Glins
Deine Winde in die Segel schickst
Und deine Fische in die Netze
Der du die Hand hebst
Die Wogen zu besänftigen
Wir preisen dich
Wir preisen dich
Wir preisen dich
Nimm unseren Dank an
Und gib uns deinen Segen
    Und als das letzte der ach so vertrauten Worte in das Schwarz driftete, da regte sich der mächtige Schatten wieder und glitt langsam zurück in tieferes Dunkel. Die Präsenz, die Barrick durch ihr schieres Vorhandensein beinah die Luft abgedrückt hatte, wich allmählich aus seinem Denken und Fühlen.
    Danke, mächtiger Herr.
Es war Saqris Stimme, und zu Barricks Verwunderung hatte sie einen neckenden Ton, wie ein freches kleines Mädchen, das die Geduld eines geliebten älteren Verwandten auf die Probe stellt.
Danke, dass du uns bis hierher gebracht hast und uns noch ein bisschen

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