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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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noch in Barricks Ohren geheult hatte, war jetzt fern, ebenso das Brodeln der Wellen. Hier unten war alles lautlos, die uralten Sedimente am Grund, der schlangenartige Tang, die Fische, die zwischen den Strängen hindurchflitzten. Hier schwammen und krabbelten dunkle Schemen umher. Hier glitten mächtige, gepanzerte Wesen durchs grünliche Schimmern des Tages und die lichtlose Nacht.
    Erivor?
Barrick versuchte, seine Gedanken so kraftvoll auszusenden, wie er irgend konnte.
Meine Familie hat dir immer gegeben, was dir zustand. Du warst unser Patron, unser Herr. Bitte, Herr, hilf mir jetzt!
    Im Dunkel regte sich etwas — nichts, was er sehen konnte, aber etwas, das er spürte, als ob der weite Meeresgrund selbst gezuckt hätte. Es war so nah — und so riesig? Die schiere Größe dessen, was er fühlte, jagte ihm Furcht ein, und kurz wollte Barrick Eddon vor dem beängstigenden Etwas flüchten, fort aus den dunklen Tiefen, hinauf ans Licht. Aber dann fiel ihm ein, was passieren würde, wenn er versagte.
    Herr! Höre mich! Öffne mir die Straße zu deinem Haus. Öffne die Tür! Wenn du uns je wohlgesinnt warst, ist jetzt der Moment, uns zu helfen! Bitte, Vater Erivor!
    Und dann fühlte er ... es. Es griff aus und berührte seine Gedanken, so riesig und bemoost wie ein Berg. Er fühlte es in seiner ganzen gigantischen Unmöglichkeit: tief in Sedimenten von Jahrtausenden versunken, so langsam wie ein Seestern, der über einen Stein kriecht, aber auch in Teilen seines Denkens so flink wie ein winziger Fisch, der in den Schutz von Korallenarmen und wieder hervor schlüpft.
    Menschenkind?
    Der Gedanke war alterslos und schwerfällig, so als wäre der Meeresherr in Wirklichkeit eine Riesenschildkröte oder ein mächtiger Hummer, etwas Gewaltiges, das seit Jahrtausenden im Schlamm vergraben war, der Panzer bewachsen mit zahllosen kleineren Lebewesen, die auf irgendeinen fernen, glücklichen Zufall warteten.
    Öffnest du mir die Tür, Vater Erivor?
    Es konnte ihn kaum hören, kaum wahrnehmen. Es schlief zwar nicht ganz, war aber mit Sicherheit nicht wach — er fühlte, dass das Denken dieses Etwas zum weit größeren Teil außerhalb seiner Gedankenreichweite lag, träge, träumend, so langsam, dass kein lebendes Wesen es verstehen konnte.
Tür ...?
    Die Tür zu deinem Haus! Öffne sie mir!
Ein Gedanke kam ihm, driftete herbei wie eine Luftblase.
Ich werde dir viele Opfer darbringen, das verspreche ich!
    Die Tür ...
sagte es wieder, und dann fühlte er das gewaltige Etwas plötzlich ganz nah — ein leuchtendes Auge im Dunkel, ein Mund, der ein Loch zum Kern der Welt hätte sein können, ein lichtloser Strudel. Es war so viel größer ... so groß wie die Welt ...!
    Kleiner Anbeter ... du ... darfst ... passieren.
    Das Dunkel fiel abwärts, und Barrick fiel mit. Einen Moment war es so wie bei seiner Reise durch Krummlingshall, fort aus der Stadt Schlaf. Dann pressten Druck und Kälte auf ihn ein, zerquetschten ihn beinah zu nichts. Entsetzt öffnete er den Mund, um zu schreien, und Salzwasser drang ihm in den Rachen.
    Vater Erivor hatte die Tür seines Hauses geöffnet, aber sein Haus war auf dem Meeresgrund.
    Barrick war tief, tief in grünem Wasser — nur die Götter mochten wissen wie tief. Im ersten Schock hatte er reichlich von dem Wasser geschluckt, einen salzigen Mundvoll, der in seiner Kehle und seiner Luftröhre brannte, bis er nur noch husten wollte, was, wie er wusste, sein Tod wäre. Er biss die Zähne zusammen, strampelte gegen das kalte Wasser an, wusste aber nicht mal, wo oben war. Er öffnete die Augen in dem ätzenden Grün, sah um sich herum Luftblasen aufsteigen wie Löwenzahnsamen. Der Feuerblumenchor in seinem Kopf schrie etwas Warnendes, aber es klang gedämpft, fern. Er sah die wirbelnden Blasen auch dann noch, als das Wasser dunkler wurde — als ob hier tief im Ozean die Dämmerung hereingebrochen wäre. Es war auf eine bizarre Art schön ...
    Als Barrick gerade begriff, dass er starb, dass der in seiner Lunge gefangene Atem zu heißem Gift wurde, sah er, dass die Luftblasen Gestalten bildeten, geisterhafte Schemen, die ihn umkreisten, beobachteten. War da Mitleid auf diesen ungreifbaren, schaumigen Gesichtern oder nur Neugier?
    Die Kinder des Gottes,
erklärten ihm seine Gedanken, aber es waren nicht wirklich seine.
    Etwas packte ihn am Arm und zog ihn aus der Luftblasenwolke in schattig grüne Leere. Er driftete mit, ohne sich widersetzen zu können, aber alles um ihn herum wurde schwarz, und er

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