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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den Kopf, was sich jedoch nicht auf Cherts letzten Satz zu beziehen schien. »Ich glaube nicht, dass ich so lange warten kann«, sagte er. »Ich habe Angst, wenn ich es nicht verstehe, dann ... entgeht mir was.«
    »Entgeht dir was? Ich verstehe dich nicht, Junge.«
    »Das ist es ja!« Sein blasses Gesicht hatte sich gerötet. »Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber ich fühle, dass alles schlimm ist, ganz schlimm! Und ich glaube, ich weiß die Lösung oder jedenfalls irgendwelche wichtigen Sachen, und ich könnte ... weiß nicht, reinfassen und sie festhalten. Aber wenn ich's versuche, fliegen sie alle weg wie Fledermäuse, als ob ...«
    Zu Cherts Erstaunen standen Flint jetzt Tränen in den Augen. So hatte er den Jungen noch nie gesehen. Er zögerte, trat dann auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Flint schwankte auf dem wackligen Hocker, klammerte sich aber an Chert fest, und seine Brust bebte von Schluchzern, als hätte er Schluckauf. Schließlich machte der Junge sich los und glitt vom Hocker.
    »Lasst ihr mich gehen, wenn ich muss?«, fragte er. »Wenn ich wirklich unbedingt muss?«
    »Bevor du erwachsen bist? Das geht nicht, Junge. Das können wir nicht.«
    Der Junge sah ihn an, und just in diesem Moment, da sein Gesicht so kindlich war, wie Chert es noch nie gesehen hatte, huschte ein anderer Ausdruck darüber, etwas Seltsames, Verschlagenes und irgendwie Fremdartiges. »Dann gehe ich ohne euren Segen, Papa Chert.«
    »Nein?« Er fasste den Jungen an den Schultern. »Du musst mir versprechen, dass du nichts dergleichen tust. Es würde deiner Mutter das Herz brechen — das ist die reine Wahrheit! Du musst mir versprechen, dass du hier bei uns bleibst, bis wir sagen, dass du alt genug bist. Versprich es!«
    Flint versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber dank der langjährigen Arbeit als Steinhauer hatte Chert kräftige Hände, und der Junge entkam ihm nicht. »Nein!«
    »Du musst es versprechen, Junge. Du musst.« Chert weinte jetzt selbst fast. »Das ist alles, was ich sagen kann. Versprich mir, dass du nicht weggehst, ohne dass wir ... dass ich es dir erlaube.« Opalia würde es nie erlauben, aber wenn es sein musste — wenn er je das Gefühl haben sollte, dass es die einzige Möglichkeit war, den Jungen nicht auf fundamentalere Art zu verlieren —, würde er sich gegen sie stellen, das wusste er. Und das wäre ein schrecklicher Tag. »Versprich es!«
    Der Junge hörte endlich auf, sich zu wehren. »Nur mit deiner Erlaubnis?«
    »Bis du das Mannesalter erreicht hast.«
    »Aber wie alt bin ich denn jetzt?«
    Zu seiner eigenen Überraschung musste Chert lachen. »Gut gegeben, Junge. Also, sagen wir, noch ... fünf Jahre, einverstanden? Das sollte dir wohl genug Zeit geben, innerlich und äußerlich zu wachsen.«
    »Fünf Jahre?« Jetzt lag auf Flints Gesicht dumpfe Resignation. »In fünf Jahren gibt es die Welt vielleicht nicht mehr, Vater.«
    »Dann kommt es auch nicht mehr so darauf an, was wir beide tun, oder?« Chert hatte gewonnen, aber er war nicht besonders stolz darauf. »Komm«, sagte er. »Dir gefällt's doch in der Tempelbibliothek, oder? Ich habe dort zu tun. Du kannst ja den Nachmittag mit mir dort verbringen.«
    Flints Tränen waren so gut wie versiegt. Jetzt wieder still und nachdenklich, folgte er Chert durch die belebten Tempelgänge, vorbei an Priestern, Soldaten und nicht wenigen Frauen, die allesamt in Eile schienen. Es war niemand darunter, der nicht stumm dahinschritt und so düster dreinblickte wie Noszh-la, der Torwächter am Haus des Todes.

10

Narren verlieren das Spiel
    »Ein Jahr lang verrichtete das arme Kind im Tempel schwere Arbeit, doch dann verkaufte der gewissenlose Mantis den Waisen und einige andere Sklaven an einen Schiffskapitän, der eine neue Besatzung brauchte ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Kinderbuch
    Es war warm und dunkel im Raum und roch nach den herzförmigen Wurzeln, die einer von Tollys Bediensteten am Abend zuvor in die Kaminglut gelegt hatte, ein Geruch, von dem Matthias Kettelsmit Kopfschmerzen verspürte, als er sich jetzt mit schweren Lidern in dem Gemach umsah. Er hatte immer noch keine Ahnung, ob die Wurzeln für irgendein magisches Ritual gedacht waren oder ob der Rauch einfach nur für eine Art träumerische Trunkenheit sorgen sollte, was er eindeutig getan hatte. Hendon Tollys Aktivitäten waren für Kettelsmit zwar oft beunruhigend, aber immer noch in hohem Maße rätselhaft, obwohl dieser Mensch

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