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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ihn jetzt schon fast ein Tagzehnt an seiner Seite hielt wie einen angeleinten Hund.
    Kettelsmit stöhnte und machte die Augen weiter auf. Aus dem Stöhnen wurde ein erschrockenes Japsen, als er sah, dass Tolly auf der Kante des Betts gleich neben ihm saß und auf ihn herabblickte wie ein Geier, der wartete, dass sich etwas Lebendiges in Aas verwandelte.
    »W-wa-was ist, Herr?«, stammelte Kettelsmit. »Braucht Ihr etwas?«
    Sie waren allein im Gemach; die Frauen waren gegangen. Kettelsmit hoffte, dass sie alle noch wohlauf waren. Er hatte ein paar beängstigende Dinge gesehen, ehe er schließlich dem ersehnten Vergessen anheimgefallen war.
    »Bruder Okros konnte sich nie recht entscheiden, was er wollte«, sagte der Reichshüter, als ob er ein früheres Gespräch fortführte. Vielleicht tat er das ja: Kettelsmit erinnerte sich kaum, was gewesen war. Er schaffte es mit Mühe, sich aufrecht hinzusetzen.
    »Verzeihung, Herr?«
    »Was er wollte. Ich spreche von diesem Pillendreher Okros. An manchen Tagen spielte er den Gelehrten, dem es nur darum ging, die großen Geheimnisse des Lebens zu enthüllen.« Tolly grinste. Für einen Mann, der so lebte wie er, sah der Reichshüter erstaunlich gepflegt aus; Kettelsmit fragte sich unwillkürlich, ob der Adlige still und leise zum Baden verschwunden war, während er selbst noch geschlafen hatte. »Es war wirklich recht amüsant. Dann behandelte er mich, wie ein begnadeter Koch seinen fetten Herrn behandeln mag — als ein peinliches, aber notwendiges Übel, weil ich der Mäzen seiner Kunst war.« Tolly erhob sich und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Steh auf, Dichter. Das wird, wenn ich mich nicht gänzlich irre, ein bedeutsamer Tag.«
    »Herr ...?«
    »Aber Okros ist auf Abwege geraten. Er hat sich eingebildet, dass das, was wir suchten, die Antworten auf seine Fragen wären.« Tolly betrachtete Kettelsmit mit den blitzenden Augen eines Jagdfalken.
    Der Reichshüter war noch seltsamer als sonst, dachte Kettelsmit — als ob er betrunken wäre, aber auf eine harte, kristalline Art und Weise. »Aber er irrte sich, Herr ...?«
    »Was ich will, hatte nichts mit ihm zu tun. Er war ein Narr ... und Narren verlieren das Spiel.« Tolly lächelte ein schneidendes Lächeln. Die Warnung war überdeutlich. »Komm jetzt, Dichter.«
    Kettelsmit folgte Hendon Tolly durch die überfüllte Burg zur Prinz-Kayne-Bibliothek, die während der Belagerung durch die Qar zum Thron- und Ratssaal des Reichshüters geworden war. Die alte Bibliothek war trotz ihrer Größe immer ein stiller, ordentlicher Raum gewesen, mit wandhohen Regalen voller Bücher, doch jetzt sah sie aus, als wäre die Front genau hier verlaufen. Überall waren Bücher verstreut, sowohl neuere gebundene Bände als auch Pergamentrollen aus Hierosol und selbst aus dem alten Xis, und da stand ein Sammelsurium von Stühlen und Schemeln und selbst ein paar Tischen aus anderen Teilen des Palastes. Die Unordnung rührte größtenteils daher, dass Tolly und Bruder Okros den Sommerturm, König Olins Zufluchtsort, ausgeräumt und so ziemlich den gesamten Inhalt seines abgeschlossenen Zimmers in diese Bibliothek gebracht hatten — einige der Bücher schienen sogar, wie Kettelsmit bemerkt hatte, von Olin selbst verfasst, und er dachte, wie phantastisch es wäre, hier lange genug allein gelassen zu werden, um sie zu lesen. Welch eine Fundgrube für einen Dichter — die Originalaufzeichnungen eines Königs, der sich Gedanken machte! Aber Hendon Tolly gedachte ihn offensichtlich nicht von seiner Seite weichen zu lassen.
    Kettelsmit hatte schon seit Tagen nicht mehr mit Elan oder seiner Mutter gesprochen und es kaum geschafft, ihnen auch nur heimlich ein paar kurze Zeilen zukommen zu lassen, damit sie wussten, was passiert war. Er betete nur, dass seine Mutter nicht auftauchen würde, um zu verlangen, dass ihr frischbeförderter Sohn — sie dachte bestimmt, er sei Tollys Sekretär! — ihr eine Unterkunft im Palast beschaffte.
    Ein Alptraum! Und nicht nur die Vorstellung, sie am Hals zu haben — was, wenn sie Elan erwähnen würde?
    Kettelsmit verscheuchte diese Gedanken aus seinem Kopf, als eine Gruppe Soldaten, angeführt von Konnetabel Berkan Hud, in die Bibliothek kam und um eine Audienz bei Hendon Tolly ersuchte. Dass die Schiffe des Autarchen ungehindert den Hafen direkt gegenüber der Burg anliefen, beunruhigte die Männer verständlicherweise.
    »Zwei Dutzend Kriegsschiffe, Reichshüter, und es kommen noch mehr!« Berkan Hud tat

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