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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Hände verfügbar sein, um die zerstörten Mauerstellen auszubessern, und die Soldaten des Autarchen würden durch die Breschen hereinströmen. Utta war klar, dass sie am Ende vor der Entscheidung stehen würde, sich ihnen zu ergeben oder gegen das Selbstmordverbot des Zorienordens zu verstoßen — die Xixier, da war sie sich sicher, würden sie nicht so milde behandeln wie die Qar.
    Utta schlug das Zeichen der Drei, als sie aus dem geschlossenen Verbindungsgang in den langen Säulengang auf der Westseite des Palastgartens hinaustrat. Über den Mauern war der Himmel schon fast hell, was hieß, dass die nächtliche Feuerpause bald enden und der donnernde, steinzertrümmernde Beschuss wieder einsetzen würde. Zwar war man jetzt nirgends auf der Burg mehr vollkommen sicher, aber diese kurzen Phasen der Ruhe erzeugten doch zumindest die Illusion verminderter Gefahr. Und Utta war bereit, sich an jede tröstliche Illusion zu klammern, da selbst offenkundig falsche Hoffnungen derzeit rar waren.
    Avin Brone hatte sein Quartier in einer Reihe von Gemächern neben den Gardekasernen. Die Zorienschwester überquerte die freien Flächen so schnell wie möglich und versuchte, sich von den höheren Gebäuden fernzuhalten, denn da diese als Erstes im Licht lagen, zogen sie oft den morgendlichen Beschuss auf sich. Das bezeugten die Ruinen des Winterturms: Er war vor einem knappen Tagzehnt weitgehend zerstört worden, und die obere Hälfte lag immer noch auf den zerschmetterten umliegenden Gebäuden wie der Leichnam eines schlangenartigen Ungeheuers.
    Es war ein Wunder, dachte Utta, dass Avin Brone noch frei war und sogar eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der Burg innehatte. Unter anderen Umständen wäre es interessant gewesen, das Wechselspiel der Macht in Südmark zu beobachten: Berkan Hud und die anderen Kommandeure der Verteidigungstruppen hatten erkannt, dass sie weitgehend auf sich gestellt waren, dass Hendon Tolly nicht das Heft in die Hand nehmen und den Widerstand gegen die Belagerer organisieren würde, also war Brone wieder nützlich.
    Sie fand ihn in dem Zimmer, das jetzt sein Besprechungsraum war, das schmerzende Bein auf einem Schemel. Um ihn herum waren drei, vier ängstlich aussehende Garden — keiner davon alt genug, um eine Rüstung zu tragen, dachte Utta missbilligend, geschweige denn sein Leben für Hendon Tolly aufs Spiel zu setzen. Doch nach der verheerenden Schlacht auf dem Kolkansfeld und den mörderischen Kämpfen gegen die Qar waren auf der Burg, wenn es hochkam, noch tausend Männer übrig, die eine Waffe auch nur zu heben vermochten.
    »Graf Brone«, sagte sie. »Kann ich Euch einen Moment sprechen?«
    Er sah sie stirnrunzelnd an. Seine Wachen oder Knappen, oder was auch immer diese pickligen Bürschchen darstellen sollten, gaben sich alle Mühe, ebenfalls zu demonstrieren, dass sie in wichtigen Verrichtungen gestört wurden. »Was ist?«
    »Ich bin Schwester Utta, Graf Brone. Ihr erinnert Euch? Wir sind uns schon begegnet.«
    Sein Bart war jetzt fast völlig grau, wenn das auch partiell an dem Stein- und Mörtelstaub liegen mochte, der jetzt überall in der Luft lag. Es dauerte einen Moment, bis er sie einordnen konnte, dann verwandelte sich sein ungnädiges Stirnrunzeln in ein eher defensives.
    »Ja, Schwester, verzeiht, aber ich bin schrecklich beschäftigt. Was kann ich für Euch tun?«
    »Nicht für mich, Graf Brone. Für die Herzogin. Sie bittet Euch, zu ihr zu kommen.«
    »Merolanna? Aber ...« Er schüttelte unwirsch den Kopf »Ich kann nicht laufen — nicht gut. Und falls die Herzogin und Ihr es noch nicht bemerkt habt, wir stehen im Krieg gegen einen grausamen Feind. Bittet sie, meine Unhöflichkeit zu verzeihen, Schwester, aber im Moment passt es wirklich nicht.« Er wollte sich wieder den vor ihm ausgebreiteten Plänen der Stadt zuwenden, doch ein Rest von schlechtem Gewissen ließ ihn wieder aufblicken. »Wirklich, es geht nicht. Nicht heute.«
    »Ich werde es ihr bestellen, Graf Brone. Sie wird natürlich enttäuscht sein. Sie bat mich, Euch zu sagen, dass sie Euch in einer Angelegenheit sprechen will, von der nur Ihr wisst.
Ihr allein.«
Utta hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, aber die Herzogin war sehr dezidiert gewesen.
    »Lasst ihm ein Nein nicht durchgehen«,
hatte ihr Merolanna eingeschärft.
»Er wird es versuchen. Lasst es nicht
zu.«
    »Ich kann nicht, Schwester, wirklich nicht. Es ist der falsche Moment«, sagte Brone, aber schon nicht mehr so bestimmt wie eben.

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