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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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dafür fehlten ihr jetzt die Kräfte. »Dann können wir ja jetzt zum Wichtigsten kommen. Ich werde bald sterben, Brone.«
    »Nie und nimmer. Ihr werdet mich überleben ...!«
    »Unsinn. Ich bin zehn Jahre älter als Ihr, und ich bezweifle, dass ich den Frühling noch erleben werde. Glaubt Ihr, ich fürchte mich vor dem Tod? Ich sehe ihm freudig entgegen. Aber ich will Euch um etwas bitten — nein, ich verlange es. Benutzt Vansen oder sonst irgendein Werkzeug, das Euch zur Verfügung steht, um die Zwielichtler zum Reden zu bringen. Findet heraus, was mit unserem Sohn geschehen ist. Findet heraus, warum sie ihn geraubt und was sie mit ihm gemacht haben. Das muss ich wissen, ehe ich sterbe. Versprecht es mir.«
    Brone klang jetzt nicht mehr ärgerlich, aber auch nicht gerade bereitwillig. »Ich kann nicht zu Vansen oder den ... oder zu sonst jemandem, Merolanna. Hendon Tolly beobachtet jeden meiner Schritte.«
    »Versprecht es mir.« Merolanna sprach jetzt so leise, dass Utta sie kaum noch verstand. »Tut mir diesen letzten Gefallen, Avin. Schwört, dass Ihr's tut.«
    Mehr wurde nicht gesagt, aber Utta vermutete, dass Brone genickt hatte. Sie hörte seine schweren, hinkenden Schritte auf die Tür zukommen. Ihr standen jetzt Tränen in den Augen, und sie hatte Angst, beim Lauschen ertappt zu werden — sie fühlte sich ohnehin schon wie die niederträchtigste Spionin. Ihr ganzer Zorn war weg, vertrieben von den Stimmen zweier alter Leute und der Traurigkeit des Gesagten.
    Brone trat in dem Moment auf den Gang heraus, als sie die andere Tür erreichte. Sie versuchte so zu tun, als käme sie gerade aus den vorderen Gemächern, aber der Graf schien sie ohnehin kaum wahrzunehmen. Er humpelte langsam den Gang entlang, das Gesicht eine Grimasse des Schmerzes. Sie glaubte nicht, dass es nur die Gicht war.
    »Dann einen guten Tag noch, Schwester«, brummte er, ohne aufzuschauen. Sie hatte vergessen, wie groß er war, selbst wenn er den Kopf hängen ließ, als wäre er unendlich müde.
    »Euch auch, Graf Avin.« Sie trat zur Seite, um ihm Platz zu machen, und sah ihm dann nach, wie er davonhinkte.

    Der dröhnende Knall einer die äußere Ringmauer erschütternden Riesenkanonenkugel war kaum verhallt, als ein weiteres Geschoss krachend in unmittelbarer Nähe einschlug.
    Hendon Tolly schnappte sich eine weitere Schüssel vom Tablett und warf sie der ersten durchs Zimmer hinterher, knapp an dem sich wegduckenden Pagen vorbei, der ihm die Mahlzeit gebracht hatte. Soße, vermengt mit Fleischstücken und Kruste der zerschmetterten Pastete, rann langsam die Wand hinab, während Tolly mit hervorquellenden Augen und puterrotem Gesicht auf und ab marschierte. »Verfluchte gelbäugige Missgeburt! Fluch über ihn! Zum Kernios mit diesem Kalbskram — ich will den Kopf des Autarchen in einer Pastete.«
    Kettelsmit war nicht so dumm, irgendetwas zu sagen. Am anderen Ende des Zimmers kauerte Puzzle auf Ellbogen und Knien; was auch immer ihn in Tollys Gemach geführt hatte, er war sein Anliegen noch nicht losgeworden. Kettelsmit, den der Protektor seit Tagen an seiner Seite festhielt, hatte den alten Hofnarren lange nicht gesehen — aber das jetzt war eindeutig nicht der Moment, sich über den jüngsten Hoftratsch aufs Laufende zu bringen.
    »Herr ...!«, brachte Puzzle zittrig heraus. Er hatte solche Angst, dass die Schellen an seinem dunkelgrünen Wams und der Narrenkappe leise klingelten. »Herr, bitte ...«
    »Halt den Mund, du vertrockneter alter Langweiler?«, tobte Tolly. »Ich könnte dich auf der Stelle töten, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden. Morgen Abend würde sich niemand mehr an dich erinnern.«
    Puzzle sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Er presste den Kopf auf den Boden und war still bis auf das stete Klimpern seiner bebenden Glöckchen. Kettelsmit hätte ja Mitleid mit ihm gehabt, aber er fürchtete seit Tagen um seinen eigenen Leib und seine eigene Seele und hatte wenig Kraft für andere übrig, nicht mal für Freunde.
    Wieder hallte ein ferner Kanonenschuss wie ein Donnerschlag.
    Berkan Hud, der Konnetabel, stand in der Tür und sah zu, das narbige Gesicht bleich, aber ausdruckslos. Die Nachricht von der ersten größeren Bresche in der äußeren Ringmauer — einer Bresche, die die Verteidiger in diesem Moment verzweifelt zu schließen versuchten — war der Auslöser für Tollys Wutausbruch gewesen.
    »Herr«, sagte Hud, als der Tobsuchtsanfall des Protektors schließlich nachließ. »Beruhigt

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