Das Herz
die Achseln. »Und ich glaube nicht, dass das hier noch lange ein sicherer Ort ist.«
Briony betrachtete den Mann. Was konnte er wissen, das sie Eneas vorenthalten wollen würde? Dass ihr nichts einfiel, vertrieb die Unsicherheit nicht. »Aber selbst wenn ich einen solchen Handel schließen wollte, stünde es nicht in meiner Macht. Hier gebietet der Prinz von Syan.«
»Könnt Ihr ihn nicht ... überreden?« Weiße Zähne hin oder her, sein Grinsen war widerwärtig.
Briony wandte sich zum Gehen.
»Wartet. Wartet, Hoheit! Es tut mir leid! Ich habe die Situation falsch gedeutet! Bitte, kommt zurück!« Sie drehte sich um und sah ihn an. Dard war auf die Knie gefallen und ließ jetzt seiner Verzweiflung freien Lauf: »Bitte, Prinzessin, ich war ein Tor — verzeiht mir. Gebt mir nur Euer Wort, dass Ihr Euer Bestes tun werdet, Euren Teil des Handels einzuhalten, dann vertraue ich darauf. Werdet Ihr das tun? Wenn meine Information für Euch von Nutzen ist, versprecht Ihr, dass Ihr dann mit Eneas über meine Freilassung sprechen werdet? Damit bin ich zufrieden. Euer Wort genügt mir.«
Sie war halb ängstlich, halb neugierig: Was mochte das für eine Information sein, die er für wertvoll genug hielt, sie einer Prinzessin als Tauschware anzubieten? »Nun gut«, sagte sie schließlich. »Ich verspreche: Wenn Eure Information für mich von Nutzen ist, werde ich mich bei Eneas für Euch verwenden.«
»Bald. Bevor es zu weiteren Kämpfen kommt.«
»Bald, ja. Also, was habt Ihr mir zu sagen?«
Er blickte nach rechts und links, obwohl da ein paar Dutzend Schritt weit keine Menschenseele war. Dann beugte er sich dicht an den Zaun. Briony trat so nah heran, wie sie konnte, ohne sich in seine Reichweite zu begeben — sie würde sich von niemandem durch irgendwelche Tricks als Geisel nehmen lassen.
»Auf der anderen Seite der Hügel«, sagte er, »am Ufer der Brennsbucht, befindet sich das Feldlager des Autarchen.«
»Das weiß ich, Kaufmann ...«
»Aber was Ihr nicht wisst, ist, dass er dort einen Gefangenen hat — einen königlichen Gefangenen.« Er musste wohl an ihrem Gesicht abgelesen haben, dass er richtig vermutet hatte, denn seine Miene wurde jetzt wesentlich zuversichtlicher. »Ah, ich sehe, Ihr wusstet es nicht. Dieser Gefangene ist Euer Vater, Prinzessin Briony — der Autarch hat Euren Vater, König Olin von Südmark.«
12
Willow
»Sie reisten nach Perikal und Ulos und selbst ins wilde Akaris, wo sie auf dem Marktplatz xandische Windpriester sahen und deren heidnische Heulgesänge hörten, aber der Waisenknabe hielt sich die Augen zu und verstopfte sich die Ohren gegen solche Gottlosigkeit ...«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Manchmal schien es, als würden die Kanonen nie wieder schweigen. Nach Tagen einer sonderbaren, unerwarteten Ruhe hatte der xixische Angriff schließlich begonnen und seither nicht nachgelassen. Die südländischen Schiffe glitten auf der Brennsbucht hin und her, und ihre Kanonenkugeln rissen Stücke aus den Mauerkronen, zerschmetterten Dächer und Türme zu einem tödlichen Trümmerregen, der Menschen erschlug wie Perins Blitzstrahl. Das Dach des Wolfszahnturms, des größten Turms von Südmarksburg, fehlte schon weitgehend. Größere xixische Kanonen hämmerten von ihrer Stellung auf dem Hügel hinter Südmarkstadt den ganzen Tag auf die äußere Ringmauer ein, und ein, zwei Mal pro Stunde ließen auch die mächtigsten Geschütze des Autarchen, die Krokodile, ihr Donnergebrüll erschallen. Die Kugeln der Krokodile waren so groß, dass es Dutzende Männer brauchte, sie auch nur anzuheben. Schon zwei, drei Treffer dieser rund zugehauenen Felsbrocken vermochten auch das stärkste Bollwerk zu zerschlagen. Die Verteidiger von Südmarksburg mussten jede Nacht die kritischsten Stellen der mächtigen äußeren Ringmauer reparieren: Trupps arbeiteten fieberhaft in fast völligem Dunkel, ehe dann am Morgen die Kanonen des Autarchen wieder erwachten und der Beschuss von neuem begann.
Selbst für Schwester Utta, die vom Kriegswesen wenig verstand, war offensichtlich, dass die Festung dem Angriff nicht mehr lange standhalten würde — Hunderte Südmärker waren bereits tot, noch mehr verwundet. Schon jetzt drangen xixische Soldaten mit spitzen Helmen kühn an den Fuß der Mauer vor und schrien wie Wahnsinnige zu den Verteidigern hinauf, provozierten sie, wertvolle Pfeile und Kugeln zu vergeuden. Irgendwann würden nicht mehr genug
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