Das Herz
Er war rot im Gesicht und sah müde aus; dass er selbst nicht bei bester Gesundheit war, hätte wohl niemand bezweifelt. Er tat Utta leid — aber nicht so leid, dass sie nicht ihre nächste Waffe gezückt hätte.
»Nun denn, aber ich habe Angst, ihr das auszurichten«, sagte sie. »Sie ist nicht so gut bei Kräften.«
Er sah sie misstrauisch an. »Merolanna? Das habe ich noch niemanden über sie sagen hören.«
»Ihr habt sie nicht gesehen, seit wir Gefangene der Qar waren. Sie ist nicht mehr die, die sie war.«
»Der Mann, den ich nach eurer Rückkehr zu euch geschickt habe, um euch zu befragen, hat nichts dergleichen gesagt.« Aber er schien betroffen. Was mochte er wohl für einen Konnetabel abgegeben haben, dachte Utta, ein so weichherziger Mann? Oder war es eine Emotion ganz anderer Art?
»Kommt und seht selbst, Graf Brone. Es geht ihr nicht gut. Unsere Gefangenschaft hat ihr zugesetzt, und sie ist nicht mehr die Jüngste.« Utta hatte keine allzu großen Skrupel, dieses Druckmittel einzusetzen. Sie wünschte nur, es wäre nicht die Wahrheit.
Er stöhnte. »Ich bräuchte einen Tragsessel.«
Sie bemühte sich, unnachgiebig zu bleiben, obwohl sie beim Anblick seines unförmig geschwollenen Fußes doch etwas Mitleid empfand. »Ihr seid ein wichtiger Mann, Graf Avin, für Euch wird doch selbst in Zeiten wie diesen einer verfügbar sein. Oder Merolanna könnte Euch ihre Kutsche schicken, falls sich ein Weg durch diesen ganzen Schutt freiräumen lässt.«
Merolanna hatte sich mit Hilfe von Kissen im Bett aufgesetzt, sah aber tatsächlich nicht wohl aus. Der neue Hofarzt hatte ihr mehrere Zähne gezogen, die während der Gefangenschaft verfault waren — Kayyin, der Halbzwielichtler, hatte angeboten, ihr Hilfe zu schicken, aber die Vorstellung, dass einer dieser Qar in ihrem Mund herumwerkelte, hatte Merolanna dermaßen entsetzt, dass sie ablehnte. Jetzt waren ihre Wangen eingefallen, was selbst der kunstvolle Einsatz von Rouge nicht zu kaschieren vermochte. Ihr Haar, das unter einer schlichten weißen Haube steckte, war dünn geworden, und die Hände, die das Deckbett an ihre Brust rafften, waren knochig und fleckig. Nur in ihren Augen war die Merolanna von vor einem Jahr wiederzufinden. Wach und intelligent fixierten sie Brone, als er ins Zimmer humpelte.
»Ihr seid also gekommen.« Ihre Stimme zitterte nur ein klein wenig.
»Ja, Euer Gnaden«, sagte er. »Wie hätte ich eine so freundliche Einladung ablehnen können?
›Sagt ihm, er soll kommen, oder ich werde tot umfallen und er hat mich auf dem Gewissen‹ —
so in etwa lautete doch die Botschaft, Schwester Utta?«
Da musste selbst Merolanna lächeln, doch sie hielt sich rasch die Hand vor den verwüsteten Mund. »Ihr übertreibt wie immer, Brone. Aber ich bin froh, dass Ihr hier seid. Wir müssen reden.« Sie wandte sich an Utta. »Lasst uns jetzt allein, Schwester, damit ich unter vier Augen mit Graf Avin sprechen kann. Wir sind schließlich alte Freunde.«
Utta hatte nicht damit gerechnet, weggeschickt zu werden. Sie verneigte sich leicht und ging hinaus, aber in ihrem Inneren brodelte es. Wie viel Zeit hatten sie und Merolanna in diesem letzten Jahr zusammen verbracht? Wie lange hatten sie als Gefangene der Qar zusammengelebt wie unverheiratete Schwestern? Und wessentwegen? Und jetzt schickte Merolanna sie weg wie irgendeine Bedienstete.
Es ist nicht recht,
dachte sie und blieb an der Tür zu den vorderen Gemächern stehen, wo sie Merolannas Dienerinnen bei der Nadelarbeit schwatzen hörte: Wie immer war die hübsche kleine Eilis die mit der lautesten Stimme und dem lebhaftesten Lachen. Welche Zukunft hatte Eilis, hatten sie alle noch, hier in dieser untergangsgeweihten Burg? Was für schreckliche Zeiten! Und dennoch erwartete man von ihr, Utta, sie die Dinge erlebt hatte, die sich kaum jemand vorstellen konnte, sie die der dunklen Fürstin der Zwielichtler leibhaftig begegnet war, dass sie da hinausging und bei diesen Kindern saß, bis Merolanna ihr Gespräch mit dem Mann beendet hatte, in dessen Händen derzeit ihrer aller Überleben lag.
Die Hand schon auf der Türklinke, überlegte sie es sich anders und ging wieder zurück. Utta hatte nicht die Absicht, Merolanna zu belauschen — sie wollte nur wieder hineingehen und darum bitten, dabei sein zu dürfen, der Herzogin zu verstehen geben, dass sie nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, eine bessere Behandlung erwartete — doch was sie durch die Tür hörte, ließ ihre Finger
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