Das Hexenkraut
weißt du, was ich glaube?«
Jakob schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, dass jemand, der heilen kann, auch krank machen und den Tod bringen kann.« Die Schuhmacherin nickte energisch und richtete sich wieder auf.
»Trotzdem. Die Schwarzleiberin ist unsere letzte Hoffnung«, erwiderte Jakob.
Die Schuhmacherin sah Jakob mitfühlend an. »Gott ist eure Hoffung. Bete für deine Mutter, Jakob«, sagte sie leise und ging zurück ins Haus.
Jakob atmete tief ein. Natürlich betete er für seine Mutter. Jeden Tag. Mehrmals. Das hatte er auch für seinen Vater, seinen Bruder und seine beiden Schwestern getan. Bei ihnen hatte es nicht ausgereicht. Nein, Jakob konnte nichts unversucht lassen. Er würde zur Schwarzleiberin gehen. Auch wenn ihm die vielen Geschichten, die man sich über sie in der Stadt erzählte, Angst machten. Auch wenn sie eine Hexe war.
Menschenaugen und Mumienhand
»Seit wann, sagst du, plagt deine Mutter das Fieber?« Die Schwarzleiberin stand nur einen Schritt von Jakob entfernt. Sie musterte ihn mit ihren stechend blaugrünen Augen. Jakob hatte das Gefühl, die Schwarzleiberin konnte in ihn hineinsehen. Sie sah seine Gedanken, seine Sorgen und seine Angst. Ihm wurde beinahe schwindelig. Noch nie hatte er solche klaren, betäubenden Augen gesehen.
»Seit über einem Monat«, erwiderte er schließlich. Sein Mund war trocken. Seine Stimme wie die einer Maus.
»War Dr. Rothaupt bei ihr?«
Jakob nickte. »Er hat einen Aderlass gemacht. Er hat gesagt, damit wird das Gleichgewicht zwischen den vier Säften wiederhergestellt. Zwischen Blut, Schleim, gelber … ähm …«
»Gelber Galle und schwarzer Galle.«
Jakob nickte. »Aber es hat nichts geholfen.«
»Natürlich nicht«, sagte die Schwarzleiberin leise, mehr zu sich selbst als zu Jakob.
Während die Schwarzleiberin Jakob weitere Fragen zur Krankheit seiner Mutter stellte, sah er sich unauffällig in dem kleinen Haus um. Neben der Stube gab es noch eine Küche und eine Kammer. In der Stube stand ein einfacher Holztisch mit einem Stuhl und einem Schemel. Auf dem Tisch stand eine Tranfunzel. Daneben lag ein Unterkleid, das die Schwarzleiberin scheinbar gerade ausbesserte. Auf dem Schemel lag ein dickes Buch. Es war aufgeschlagen, die Seiten sahen abgenutzt aus. Bis auf eine Zeichnung, die einen Menschen darstellte, konnte Jakobs nichts erkennen. Er konnte nicht lesen.
An der Wand stand eine Truhe, darüber hing ein Regal. Es war voller Holzschalen, irdener Krüge, Töpfe und kleiner Tongefäße. Soweit Jakob es erkennen konnte, waren die Schalen mit getrockneten Pilzen, Früchten, Samen und Blüten gefüllt. Eine Schale war größer als die anderen. Darin lagen walnussgroße, helle Kugeln. Auf einmal beschlich Jakob eine schreckliche Befürchtung: Waren das Menschenaugen? Jakob schluckte und wandte den Blick ab.
Auf einem flachen Holzteller lag etwas, das wie eine riesengroße, behaarte, schwarze Spinne aussah. Jakobs Blick wanderte zum obersten Regalfach. Er riss die Augen auf. Für Sekunden verschlug es ihm den Atem. Lag dort etwa eine … eine Mumienhand? Er hatte davon gehört, dass Hexen getrocknetes Menschenfleisch für ihre Salben verwendeten. Jakob schüttelte sich und strich sich über den Arm. Er hatte Gänsehaut. Am liebsten hätte er sich mit einem Ruck umgedreht und wäre aus dem Haus gerannt. Doch er stand wie mit dem Steinboden verwachsen in der Stube der Schwarzleiberin. Er konnte sich nicht bewegen und brachte keinen Ton heraus.
Unauffällig spähte er in die Küche. Von der Decke hingen allerhand getrocknete Pflanzen. Manche kannte Jakob, andere wirkten geheimnisvoll und fremd. Am Türrahmen lehnte ein Besen. Jakob musterte ihn genau. Er sah nicht anders aus als alle anderen Besen. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Es war gut möglich, dass die Schwarzleiberin mit genau diesem Besen durch die Nacht flog. Jakob stellte sich vor, wie es wäre, in der Luft zu schweben und über die Städte, Dörfer, Felder und Berge hinwegzufliegen. Bei dem Gedanken breitete sich ein Kribbeln in seinem Bauch aus.
»Einverstanden?« Die Schwarzleiberin riss Jakob aus den Gedanken.
Jakob fuhr sich durch die zerzausten Haare. »Ja. Nein. Womit?«
»Wir gehen zu deiner Mutter. Ich untersuche sie. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich ihr auch helfen kann.«
Jakob nickte und die Schwarzleiberin lächelte kurz. Eigentlich, fand Jakob, sah sie gar nicht wie eine Hexe aus. Er hatte sich eine Hexe immer ganz anders vorgestellt: mit
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