Das Hexenkraut
die Schwarzleiberin trat in die Stube. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und wich Jakobs Blick aus, der erwartungsvoll auf ihr lag.
Marthe ging zu ihrer Mutter. »Und?«, fragte sie leise.
»Deine Mutter ist sehr stark, Jakob. Aber die Krankheit hat sie entsetzlich geschwächt«, sagte die Schwarzleiberin. »Vielleicht können wir ihr Blut mit Bärenkraut und Feuerkraut reinigen und das Fieber mit Bocksbart senken. Hier«, sie reichte Jakob einen kleinen Stoffbeutel, »mach deiner Mutter damit einen Tee.«
Jakob nahm den Beutel und roch daran. Puh, war das widerlich! Schlimmer als der Nachttopf der Schuhmacherin. Jakob bemühte sich, nicht die Nase zu rümpfen.
Eine Sekunde sah es aus, als huschte über Marthes Gesicht ein Grinsen.
»Die eigentliche Krankheit aber sitzt in den Lungen«, fuhr die Schwarzleiberin fort. »Es kann sein,dass es deiner Mutter nach dem Tee etwas besser geht. Aber die Krankheit wirklich bezwingen können wir nur mit einer ganz besonderen Tinktur.«
»Was ist das für eine Tinktur? Könnt Ihr sie machen?«, fragte Jakob.
Die Schwarzleiberin wiegte den Kopf. »Ich könnte sie machen, würde mir nicht die wichtigste Zutat fehlen: der rote Himmelsschlüssel, auch Blutkraut genannt.«
»Dann sammle ich einfach etwas von diesem Blutkraut«, sagte Jakob.
»Das ist nicht so leicht. Schon seit vielen Sommern ist das Blutkraut von den Wiesen und Wäldern rund um unsere Stadt verschwunden. Die letzten dieser Kräuter habe ich in einer einsamen Schlucht hinter dem Höllengebirge gesehen. Die Leute nennen sie Todesschlucht.« Die Schwarzleiberin sah Jakob abwägend an. »Es ist ein weiter Weg. Und er ist nicht ungefährlich.«
Jakob war noch nie in der Todesschlucht gewesen. Aber er hatte viele Geschichten über diese unheimliche Schlucht gehört. Man erzählte sich, wilde Tiere würden dort hausen und auf den Gipfeln des Höllengebirges um die Schlucht herum träfen sich Hexen zum Tanz mit dem Teufel.
Jakob biss sich auf die Unterlippe. Das Blutkraut war vielleicht die einzige Rettung für seine Mutter. Doch bis zur Todesschlucht waren es gut drei Tage Fußmarsch. Überall lauerten Gefahren. Was, wenn Räuber über ihn herfielen? Oder wilde Tiere? Was, wenn er sich im Wald verlief oder in den Bergen stürzte, sich verletzte und selber erkrankte? Was, wenn er den Hexen in die Hände fiel? Dann wäre er für immer verloren. Seine Mutter würde denken, er hätte sie im Stich gelassen. Sie würde einsam sterben.
Bis jetzt hatte Jakob seine Heimatstadt noch nie verlassen. Er war nicht besonders stark, nicht besonders schlau und vor allem nicht besonders mutig. Sogar die zwei großen Hunde des Landherrn machten ihm Angst. Und jetzt sollte er ganz alleine zur Todesschlucht aufbrechen, die dunklen Wälder durchstreifen, die Nacht alleine im Wald verbringen und sich bis hinter das Höllengebirge wagen. Jakob sah kurz zum Leinenvorhang, hinter dem seine Mutter im Sterben lag. Er schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Wäre er doch nur nicht so ein erbärmlicher Feigling!
»Ich komme mit«, sagte Marthe auf einmal.
»Was?«, riefen Jakob und die Schwarzleiberin wie aus einem Mund.
Marthe zuckte mit den Schultern. »Jakob weiß doch noch nicht einmal, wie das Blutkraut aussieht. Außerdem kenne ich den Weg.«
Die Schwarzleiberin musterte ihre Tochter nachdenklich. Dann nickte sie.
Aufbruch ins Höllengebirge
»Können wir nicht eine kurze Pause machen?« Jakob blieb stehen. Sie waren schon seit Stunden unterwegs. Meistens bergauf. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab und sah zu Marthe. Schweiß lief über seine Stirn, die Haare waren verklebt. Seine Füße, die nur in dünnen Lederfüßlingen steckten und das lange Laufen über Wiesen, Steine und Waldböden nicht gewohnt waren, schmerzten.
Marthe lief ein paar Schritte vor ihm. Sie drehte sich um und setzte den Mantelsack ab, den sie abwechselnd trugen.
»Schwächling. Ich dachte, du willst das Blutkraut so schnell wie möglich finden.«
»Will ich auch.« Eigentlich war Jakob froh, dass Marthe ihn auf dem gefährlichen Weg ins Höllengebirge begleitete. Er war froh, dass er nicht alleine war. Aber er war überhaupt nicht froh darüber, wenn ihn jemand Schwächling nannte. Schon gar nicht ein Mädchen. Jakob verschränkte die Arme. »Wennich keine Pause mache, schaffe ich es auf keinen Fall heute noch bis oben.«
Marthe schirmte ihre Augen mit der flachen Hand ab und sah zum Himmel.
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