Das Hipp-Prinzip - wie wir können, was wir wollen
weitaus größte Teil unserer Zeit eben dem Gesetz des Chrónos , der fließenden Zeit, und nicht dem des Kairós , des erfüllten Augenblicks. Woraus umso mehr folgt: Alles zu seiner Zeit. Es gilt, die „normale“ Zeit nicht achtlos verrinnen zu lassen, sondern sie sinnvoll zu nutzen. Ebenso falsch wäre es freilich, sie auf Gedeih und Verderb mit Aktivitäten zu füllen und sich allein um des Tuns willen jene Muße zu versagen, die wir brauchen, um über das Getane wie das zu Tuende in Ruhe nachzudenken.
Vom Wert wahrer Muße
Für viele Menschen ist ein ausgeklügeltes „Zeitmanagement“ zum Statussymbol geworden. Aufgaben, Projekte, Besprechungen füllen umfängliche papierene oder elektronische To-do-Listen und Kalender. Computer, Laptops und Smartphones helfen uns an jedem Ort der Welt bei unseren Erledigungen – und bescheren uns zugleich eine Fülle neuer Aufgaben. Ständig scheinen E-Mails auf sofortige Reaktion zu warten. Wer auf der Höhe der Zeit sein will, sollte wenigstens ein Nachrichtenportal oder einen „Ticker“ auf dem Schirm haben, jeweils „personalisiert“ für sein Interessenprofil. Wehe dem, der zusätzlich die Aktienkurse in Echtzeit verfolgen muss. Außerdem gilt es, seine „sozialen Netzwerke“ zu pflegen und diverse Blogs zu verfolgen, besser noch selbst hier und da eine rasch getippte Wortmeldung beizutragen. Und da sich nur wenige Menschen diese Fülle an echten wie vermeintlichen Aufgaben merken können, orchestrieren die elektronischen Werkzeuge unseren Tag mit allerlei Weck-, Warn- und Erinnerungsmeldungen. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zerfließt dabei oft über jedes vertretbare Maß hinaus. Schlimmer, sogar ihre Freizeit selbst organisieren viele unter Effizienzgesichtspunkten.
Das alte römische Motto des „Carpe diem – Nutze den Tag“ verkehrt sich damit zunehmend in sein Gegenteil. Als es formuliert wurde, waren die Handlungsoptionen des Menschen noch recht übersichtlich. In unserer Welt des materiellen Überflusses und nahezu unbegrenzter Möglichkeiten geht es uns dagegen im Umgang mit der Zeit ähnlich wie mit unserem Umgang mit der Natur: Wir drohen beides zu übernutzen. Wir stopfen die Zeit mit allem Möglichen, darunter auch mit viel Unsinn voll. Und finden uns am Ende doch oft nur im Hamsterrad eines rasenden Stillstandes wieder.
Muße wird dabei zum Fremdwort, gerät gar in den Verdacht des Müßiggangs, der sprichwörtlich als aller Laster Anfang gilt. Stattdessen spricht man, so als sei der Mensch eine Maschine,von „Leerlauf“. Einmal nichts zu tun zu haben, wird zum horror vacui . Dabei brauchen wir in unserem Leben Zeiten der Ruhe, der Entspannung und der inneren Einkehr, um kreativ sein zu können.
Ich bin gewiss kein Mensch, der sorglos Zeit vertrödelt. Im Gegenteil, auch ich teile meine Tage ziemlich gewissenhaft ein. Wenngleich heute weitgehend meine Kinder im Tagesgeschäft die Verantwortung tragen, widme ich nach wie vor eine beträchtliche Zeit unserem Unternehmen. Die Malerei und meine Lehrtätigkeit, unter anderem an der Kunstakademie im georgischen Tiflis, die Musik sowie verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten fordern ebenfalls ihre Anteile am Zeitbudget. Doch dazwischen gibt es immer wieder genügend Auszeiten.
Leider füllen gerade viele Verantwortungsträger solche vermeintlich nutzlosen Lücken krampfhaft mit Angelegenheiten des Tagesgeschäfts. Da werden Papiere abgearbeitet, mehr oder weniger sinnvolle „Präsentationen“ zum x-ten Male umgearbeitet. Und natürlich wird viel herumtelefoniert. Sieht man von den wohl niemals aussterbenden Dauermitteilungen ab, wer gerade wo ist und wann wo sein will, dann habe ich auf Reisen oft den Eindruck, das frühere „Management by walking around“ sei durch ein „Management by calling aloud“ ersetzt worden. Wodurch die Welt oft mehr über das Geschäftsgebaren in anderen Firmen erfährt als es diesen lieb sein sollte. Von privaten Kalamitäten ganz zu schweigen. Die Zeit, die bleibt, wird mit Internet-Surfen, Filmen oder der Lektüre bunter Blätter totgeschlagen – zu denen ich inzwischen übrigens auch viele marktschreierische Wirtschaftsmagazine zähle.
Ich dagegen nutze Warte- und Transferzeiten meist zum Nachdenken. Oder ich habe etwas zu lesen dabei, das mich bei meinen momentanen Gedanken und Überlegungen wirklich weiterbringt. Und wenn ich das Gefühl habe, ich bräuchte eine Auszeit, um innerlich zur Ruhe zu kommen oder um gründlich über etwas nachzudenken,
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