Das Höllenbild
sie. »Hör verdammt noch mal auf!«
»Warum?«
»Weil ich es so will!«
»Findest du dich damit nicht ab!«
Plötzlich verwandelte sich ihre Wut in Kraft. Sie hastete zur Seite, und weil sie dabei rückwärts gegangen war, wäre sie beinahe über die eigenen Beine gestolpert.
Suko folgte ihr.
Er lächelte sie an. Arlene hatte Mühe, sich zu fangen, und sie sah auch, wie er seine Schultern hob. »Warum sollte es dir anders ergehen als mir?«
»Ich hasse dich!«
»Kann sein, aber gleichzeitig wirst du dich selbst hassen, denke ich mir!«
»Nein, nein! Ich lebe noch. Ich bin da, verdammt noch mal. Ich bin jemand, der…«
»Hör auf, Arlene, deine Zeit ist endgültig vorbei. Das Gemälde und dessen Magie war für dich eine Fluchtburg, nun aber ist es zu einem Fluch geworden. Warum findest du dich mit den Tatsachen nicht einfach ab? Warum nicht?«
»Zehn Jahre«, flüsterte sie. »Zehn Jahre sind keine Zeit, wenn man so alt ist wie ich. Bei einer sechzigjährigen Frau wäre es etwas anderes, ich kann damit noch leben, und ich weiß auch, daß ich jetzt mein endgültiges Alter erreicht habe. Dieses Bild ist zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Ich werde wieder hineintauchen, das kann ich dir versprechen. Die andere Welt wird mich konservieren, mein Alter wird bleiben, wie es schon einmal geblieben ist.«
Suko lächelte. »Meinst du wirklich, daß dich dieses Bild noch einmal annehmen wird?«
»Ja, denn ich gehöre dazu. Ohne mich ist es fad. Es stimmt da etwas nicht.« Es war ihr egal, was Suko tat. Sie jedenfalls zog sich Schritt für Schritt von ihm zurück und drehte sich um, als sie eine bestimmte Stelle erreicht hatte.
Jetzt schaute sie gegen das Bild.
Suko ging ihr entgegen. Er kam von der Seite. Er würde, wenn nötig, ihr den Weg abschneiden können, aber Arlene dachte nicht daran, es zu versuchen. Sie schaute gegen das Gemälde, und ihr Gesicht hatte einen staunenden Ausdruck bekommen.
Der war Suko ebenfalls aufgefallen. Er ging deshalb schneller, blieb neben Arlene stehen, die von ihm keine Notiz nahm, sondern nur schaute, was auf oder in dem Bild geschehen war.
Es war nicht mehr menschenleer. Jemand befand sich darin, und jemand bewegte sich, als wäre eine geheimnisvolle Magie dabei, Szenen aus der tiefsten Vergangenheit auf dieses Feld zu projizieren…
***
Der Riese kam, und ich sah ihn.
Er war es. Der Götterbote. Die männliche Gestalt aus dem Gemälde, die ich aufgrund ihres Aussehens als friedlich eingestuft hatte. Das war nun vorbei, denn er kam mir plötzlich stark, gewaltig und auch unheimlich vor. Nicht mehr friedlich, denn so wie er sich bewegte, ging auch ein Vernichter.
Ich sah ihn, aber ich wußte nicht, ob er auch mich gesehen hatte, denn er war so groß, daß er über das Dach die sehr niedrigen Weidehütte hinwegschauen konnte. Er war fast dreimal so groß wie ich.
Ein Riese, aber nicht so einer, wie man ihn sich normalerweise vorstellte.
Der Vergleich mit einem Riesenbaby schoß mir durch den Kopf. Es mochte an diesem großen, nackten und zugleich etwas pummeligen Körper liegen, um dessen Hüfte noch immer das Tuch hing, das jeden Augenblick abzufallen schien.
Aber es hielt.
Der Riese ging weiter.
Er wirkte jetzt sehr hell, als bestünde seine Gestalt aus gelblichweißem Marmor. Seine nackten Füße stampften über den Boden, und bei jedem Tritt stießen sie wuchtig auf, damit der Boden zitterte. Dieses Vibrieren hatte ich vernommen, als ich noch in der Hütte gesessen hatte.
Ob Myrna sich noch dort aufhielt, wußte ich nicht. Meine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dieser Person aus einer weit, weit entfernt liegenden Vergangenheit, als die Erde noch ein anderes Bild gezeigt hatte und viele Kontinente unter dem Eis verborgen gewesen waren, die heute freilagen.
Er kam.
Seine nackten Füße konnten mich durchaus mit einem Tritt zerquetschen – wenn sie mich erwischten. Aber noch war er nicht soweit. Er ging, und er kam mir, dem Beobachtenden, irgendwie auch orientierungslos vor, weil er den Kopf ständig bewegte, ohne daß sich sein Blick auf ein Ziel einpendelte. Ohne daß ich mich in einer direkten Gefahr befand, duckte ich mich leicht. So wie ich reagierte, so fühlte ich mich auch. Der Herzschlag hatte sich beschleunigt, auf meinem Rücken spürte ich das Kribbeln. Wenn er so weiterging, würde er die Hütte entweder dicht passieren oder sie zusammentreten. So genau war das für mich noch nicht abzuschätzen.
Umzudrehen brauchte ich mich nicht.
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