Das Hospital der Verklärung.
einen Blick hinein und stellte fest, daß sie sehr tief war. Da ihm die Bestattungstechnik kein Geheimnis war, begriff er gleich, daß das Grab mit Vorbedacht tiefer ausgehoben worden war, damit später noch ein Sarg darinPlatz finden könnte – der von Tante Aniela, Onkel Leszeks Witwe. Diese Entdeckung berührte ihn wie eine unbeabsichtigt belauschte Gemeinheit; unwillkürlich wich er einige Schritte von der Grube zurück, und die Reihen der schiefen Kreuze rückten wieder in sein Gesichtsfeld. Er schien durch die Einsamkeit überempfindlich geworden zu sein, denn der Umstand, daß die Vermögensunterschiede auch in einer Versammlung von Toten weiterbestanden, dünkte ihn absurd und niederträchtig. Er schöpfte ein paarmal tief Atem. Völlige Stille herrschte. Vom nahen Dorf drang nicht der geringste Laut herüber, selbst die Krähen, deren Krächzen Stefan auf seiner Wanderung begleitet hatte, waren nun verstummt. Die kurzen Schatten der Kreuze lagen auf dem Schnee, die Kälte strömte von den Füßen durch den Leib bis ans Herz. Geduckt schob Stefan die Hände in die Taschen. In der rechten fand er ein Päckchen – ein paar Schnitten, die die Mutter ihm zugesteckt hatte, als er aus dem Hause ging. Er hatte plötzlich Hunger, zog das Päckchen hervor und wickelte ein Schinkenbrot aus dem dünnen Papier. Er führte die Schnitte zum Munde, brachte es jedoch nicht über sich, an dem offenen Grab zu essen. Er suchte sich einzureden, es sei dummer Aberglaube; denn was war das hier im Grunde weiter als ein tiefes Loch im Lehmboden – trotz alledem: Er konnte sich nicht überwinden. Das Brot in der Hand, schritt Stefan dem Ausgang zu, vorbei an Kreuzen ohne Namen, an deren unförmigen Gestalten man vergebens nach individuellen Zügen forschen mochte, die von ihren postumen Eigentümern Zeugnis ablegen könnten. Ihm kam der Gedanke, die Sorge um die Erhaltung der Gräber sei Ausdruck des in graue Vorzeit zurückreichenden Glaubens, daß die Toten, ungeachtet der Behauptungen der Religion, dem unleugbaren Fäulnisprozeß zum Trotz, ja entgegen dem Zeugnis der Sinne, tief unten in der Erdeeine Existenz führen, die vielleicht unbequem, sogar widerwärtig, aber immerhin eine Existenz sei und die so lange währe, wie über der Erde noch irgendwelche Erkennungszeichen ständen.
Stefan erreichte die Pforte und blickte noch einmal von fern auf die Reihen der in Schnee getauchten Kreuze und den gelblichen Fleck der ausgehobenen Grube; dann trat er auf die schlammige Straße hinaus. Bei seiner letzten Überlegung kam ihm die Sinnlosigkeit der Bestattungszeremonien so recht zum Bewußtsein, und er empfand seine Beteiligung an dem bevorstehenden Leichenbegängnis als geradezu peinlich. Einen Augenblick zürnte er fast den Eltern, daß sie ihn zu dieser Eskapade veranlaßt hatten, die um so befremdender war, als er hier eigentlich nicht in eigener Person, sondern an Stelle seines erkrankten Vaters erschien.
Er kaute jetzt langsam an seinem Schinkenbrot, feuchtete die Bissen mit Speichel an und schluckte sie beinahe mit Anstrengung hinunter, denn die Kehle war ihm ausgedörrt. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Ja, so ist es sicherlich, dachte er, die Menschen glauben an dieses »Weiterleben der Toten« mit einem Teil ihres Wesens, der allen weltlichen Argumenten verschlossen sein muß; denn wäre die Gräberfürsorge nur ein Ausdruck der Liebe und Trauer um den Verschiedenen, so würde sie sich mit der Pflege der sichtbaren, der »überirdischen« Form des Grabes zufriedengeben. Führte man aber die Motive der menschlichen Bestattungstätigkeit auf solche Gefühle zurück, dann bliebe unerklärlich, weshalb soviel Mühe auf die Bequemlichkeit des Leichnams verwandt wurde, indem man ihn kleidete, ihm ein Kissen unters Haupt legte und ihn in ein Futteral einschloß, das den größtmöglichen Schutz gegen das Wirken der Naturkräfte bieten sollte. Einem solchen Tun liegt gewiß ein obskurer,vernunftwidriger Glaube an das Weiterleben der Toten zugrunde, an dieses entsetzliche, schaudererregende Eingekapseltsein im Sarg, das gemäß einer inneren Gewißheit der Bestattenden offenbar doch einer vollständigen Vernichtung und Einswerdung mit der Erde vorzuziehen ist.
Ohne es gewahr zu werden, hatte Stefan den Weg zum Dorf eingeschlagen, wo der Kirchturm in der Sonne funkelte. Plötzlich sah er, daß sich in der Biegung der Landstraße etwas rührte, und bevor er erfaßt hatte, was dort geschah, hatte er rasch das Brot in die
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