Das Hotel (German Edition)
die Geldgeschichte, okay? Wenn heute die neuen Gäste kommen, wird es einfacher, so zu tun, als wäre alles wie immer.»
Herbert Hinrichsen traf als Erster ein. Seine Silhouette zeichnete sich dunkel und fast bedrohlich gegen das glühende Rot der untergehenden Sonne ab. Jedenfalls empfand Veronika das so, als sie ihm die Tür öffnete und im Gegenlicht lediglich seine Umrisse erkennen konnte. Die hohe Gestalt überragte sie so deutlich, dass sie zu ihm aufschauen musste.
«Guten Abend, mein Name ist Hinrichsen. Ich habe reserviert», sagte er und rückte umständlich seine altmodische Schildpattbrille zurecht. Die sonore Stimme passte nicht ganz zu den dicken Brillengläsern, hinter denen er blinzelte wie eine kurzsichtige Eule.
«Guten Abend, wir haben Sie bereits erwartet. Mein Name ist Lohgerber.» Veronika trat zurück, um ihn einzulassen. Dabei musterte sie ihn unauffällig und konnte nicht anders, als sich über ihren allerersten Eindruck zu wundern. Wie hatte sie diesen Mann nur als unheimlich empfinden können? Wurde sie allmählich paranoid?
Hinrichsen mochte hochgewachsen sein, aber sein restliches Äußeres war alles andere als furchteinflößend. Der Anzug aus leichtem grauem Wollstoff hatte schon bessere Zeiten gesehen, und auch die Schuhe waren zwar sauber geputzt, aber unter der glänzend polierten Schuhcremeschicht waren die abgestoßenen Spitzen noch deutlich zu erkennen. Ein altmodischer Schweinslederkoffer vervollständigte das eher biedere Auftreten.
«Darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?», fragte Veronika höflich und drehte sich bereits um, um vorauszugehen. Er mochte zwar nicht ihrer üblichen Klientel entsprechen, aber sie würde den Teufel tun und ihn das spüren lassen. Die Unbeholfenheit, mit der er seinen Koffer eng an sich gepresst trug, um nur ja nirgends anzustoßen, rührte sie. Offensichtlich war er nicht an exklusive Hotels gewöhnt. Was hatte ihn nur ins La Villa verschlagen?
Eigentlich war das Dalí-Zimmer für ihn vorgesehen gewesen, weil sie das chinesische, da es direkt an ihr Schlafzimmer grenzte, gerne bis zuletzt frei hielt. Aber aus Gründen, die ihr selbst schleierhaft waren, ging sie an der offenen Tür der Uhren-Suite vorüber und öffnete die Tür zum Reich-der-Mitte-Zimmer. Hier würde sie eher mitbekommen, wenn er etwas benötigte.
«Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen», sagte sie und lächelte ihm herzlich zu.
«Danke sehr, das werde ich bestimmt.» Er stellte den Koffer ab und sah sich um. Unten schrillte die Türglocke. Das musste Monsieur Godunow sein.
«Wir essen immer um sieben», informierte Veronika Hinrichsen hastig. «Wenn Sie noch irgendwelche Wünsche haben, ich bin gleich wieder da.»
«Nein, nein, gehen Sie ruhig. Ich komme schon zurecht. Bis später dann.» Er nickte ihr zu und wandte sich ab, um seinen schäbigen Koffer zu öffnen.
Als Veronika die Treppe heruntereilte, hatte Mascha bereits die Tür geöffnet und unterhielt sich angeregt auf Russisch mit dem Neuankömmling. Veronika blieb stehen und nutzte die Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Alexej Godunow entsprach fast schon lächerlich übertrieben dem Bild des bärigen Russen. Seine massive Gestalt hätte man sich gut als Flößer auf der Wolga vorstellen können. Das breite, slawisch geschnittene Gesicht, die breiten Schultern, die kräftigen Hände, die mühelos die schweren Gepäckstücke schlenkerten – all das ließ einen erwarten, dass er im nächsten Augenblick lautstark «Kalinka» anstimmen würde.
Erst auf den zweiten Blick fielen ihr der Maßanzug und die handgenähten Schuhe auf. Nein, dieser Mann hatte noch nie in seinem Leben mit den Händen gearbeitet. Sprach er tatsächlich Russisch mit französischem Akzent?
«Guten Abend», meldete Veronika sich von der Treppe und ging langsam auf die beiden zu, um ihrerseits den neuen Gast zu begrüßen. «Monsieur Godunow aus Paris?»
«Oui, Madame.» Er wechselte in ein gut verständliches, wenn auch nicht völlig akzentfreies Deutsch. «Und ich muss sagen, ich bin entzückt, hier bei Ihnen eine – wie sagt man auf Deutsch? – Landsmännin zu treffen!»
Kurz entschlossen bat Veronika Mascha, ihm sein Zimmer zu zeigen. «Ich übernehme derweil die Küche», sagte sie und zwinkerte der Freundin ermutigend zu. Es konnte nicht schaden, wenn dieser Godunow Mascha von Lou ablenkte, fand sie. Und das tat er offensichtlich, denn die Freundin wirkte so aufgedreht wie lange nicht mehr. Ob das nur daran
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