Das Hotel New Hampshire
klargemacht, daß wir ihn immer lieber verträumt als schuldbewußt sehen würden, auch wenn uns seine Träume manchen Kummer bescheren mochten; wir konnten ihn akzeptieren als einen, der nicht ganz da war, aber er wäre uns nicht so lieb gewesen, wenn er sich wirklich Sorgen gemacht hätte, wenn er sich wirklich »verantwortlich« gezeigt hätte, so wie man das gemeinhin von Vätern erwartet.
»Lilly, Schätzchen, du solltest nicht hier sein«, sagte Vater zu Lilly und schob sie von der Tür weg.
»Weiß Gott nicht«, sagte der Ehemann aus New Hampshire, inzwischen bemüht, Augen und Ohren seiner Tochter gleichzeitig zuzuhalten - aber einfach nicht in der Lage, sich von der Szene loszureißen.
»Frank, bring Lilly bitte auf ihr Zimmer«, sagte Vater leise. »Franny?« fragte er. »Ist alles okay, mein Schatz?«
»Na klar«, sagte Franny.
»Es tut mir leid, Franny«, sagte Vater, während er mit ihr den Flur entlangging. »Alles, mein ich«, fügte er hinzu.
»Es tut ihm leid!« mokierte sich die Frau aus New Hampshire. »Er mutet seinen Kindern diesen ekelhaften Schmutz zu, und dann tut es ihm leid!« Aber jetzt bekam sie es mit Franny zu tun. Wir mochten Vater vielleicht kritisieren, aber sonst durfte das niemand.
»Du tote Fotze«, sagte Franny zu der Frau.
»Franny!« sagte Vater.
»Du kaputte Schnalle«, sagte Franny zu der Frau. »Du Jammerlappen«, sagte sie zu dem Mann. »Ich wüßte genau den richtigen Mann für euch, der würde euch schon zeigen, was ›ekelhaft‹ ist«, sagte sie. »Aybha oder Gajäsana«, sagte Franny zu ihnen. »Wißt ihr, was das ist?« Ich wußte es; ich spürte, wie ich an den Handflächen zu schwitzen begann. »Die Frau liegt dabei auf dem Bauch«, sagte Franny, »und der Mann liegt auf ihr und schiebt seinen Unterleib vor und macht ein hohles Kreuz.« Die Frau aus New Hampshire machte die Augen zu, als das Wort »Unterleib« fiel; der arme Ehemann schien Augen und Ohren seiner ganzen Familie gleichzeitig bedecken zu wollen. »Das ist die Elefantenstellung«, sagte Franny, und ich schauderte. Die Elefantenstellung war eine der zwei Hauptstellungen (neben der Kuhstellung) in der Vyanta-Gruppe ; es war die Elefantenstellung, bei deren Beschreibung Ernst besonders verträumt wurde. Ich hatte das Gefühl, als werde mir gleich schlecht, und Franny fing plötzlich an zu weinen. Vater führte sie rasch den Flur hinunter, und Susie der Bär - beunruhigt, aber ganz Bär - ging ihnen winselnd nach.
Der Kunde, der ohnmächtig geworden war, als Kreisch-Annie die Krugerstraße erledigte, kam zu sich. Es machte ihn schrecklich verlegen, daß wir alle ihn anschauten: Freud, ich, die Familie aus New Hampshire, Kreisch-Annie, ihre Tochter und Babette. Wenigstens, dachte ich bei mir, blieb ihm der Bär erspart - und der Rest meiner Familie. Spät wie üblich kam die Alte Billig anmarschiert; sie hatte geschlafen.
»Was ist denn los?« fragte sie mich.
»Hat dich Kreisch-Annie nicht aufgeweckt?« fragte ich sie.
»Kreisch-Annie weckt mich nicht mehr auf«, sagte die Alte Billig. »Es sind diese verdammten Weltverbesserer vom vierten Stock.«
Ich blickte auf meine Uhr. Es war noch nicht mal zwei Uhr früh. »Du schläfst wohl immer noch«, flüsterte ich der Alten Billig zu. »Die Radikalen kommen nicht so früh ins Haus.«
»Ich bin hellwach«, sagte die Alte Billig. »Nicht alle Radikalen sind gestern abend nach Hause gegangen. Manchmal bleiben sie die ganze Nacht da. Und normalerweise sind sie ruhig. Aber Kreisch-Annie muß sie aufgeschreckt haben. Irgend etwas ist ihnen runtergefallen. Und als sie es wieder aufheben wollten, zischten sie wie die Schlangen.«
»Nachts sollten sie nicht hier sein«, sagte Freud.
»Ich habe genug von diesem Schmutz gesehen«, sagte die Frau aus New Hampshire, die sich offenbar ignoriert fühlte.
»Ich hab alles gesehen«, sagte Freud geheimnisvoll. »Den ganzen Schmutz«, sagte er. »Man gewöhnt sich daran.«
Babette sagte, ihr reiche es für diese Nacht; sie ging nach Hause. Kreisch-Annie brachte die Dunkle Inge wieder ins Bett. Kreisch-Annies verschämter Gefährte versuchte, so unauffällig wie möglich aus dem Hotel zu kommen, aber die Familie aus New Hampshire folgte ihm mit den Blicken, bis er draußen war. Jolanta gesellte sich zu Freud und der Alten Billig und mir; wir standen auf dem Treppenabsatz im ersten Stock und horchten nach oben, aber die Radikalen - falls sie da waren - verhielten sich jetzt ruhig.
»Ich bin zu alt für die vielen
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