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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vorsichtig. New York ist groß, dachte ich; damit schien noch nichts preisgegeben.
    »Dann sag ihr, ich würde sie gerne sehen«, sagte er, und er wollte um mich herumgehen. »Ich kann doch dieses Mädchen nicht warten lassen«, flüsterte er verschwörerisch; er zwinkerte mir tatsächlich zu. Ich packte ihn unter den
    Armen und hob ihn einfach hoch; für einen Footballer wog er nicht viel. Er wehrte sich nicht, aber die Leichtigkeit, mit der ich ihn hochgehoben hatte, schien ihn echt zu überraschen. Ich wußte nicht recht, was ich mit ihm tun sollte; ich überlegte eine Minute - oder jedenfalls muß es Chipper Dove wie eine Minute vorgekommen sein - und setzte ihn dann wieder ab. Ich stellte ihn einfach wieder vor mich hin, mitten auf der Seventh Avenue.
    »He, ihr zwei seid wohl verrückt!« rief seine Freundin; zwei Taxis, die ein Rennen auszutragen schienen, fuhren links und rechts an uns vorbei - die Fahrer ließen noch lange die Hände auf den Hupen, während sie stadteinwärts verschwanden.
    »Laß mal hören, warum du Franny sehen möchtest«, forderte ich Chipper Dove auf.
    »Du hast ein bißchen mit den Gewichten gearbeitet, wie's aussieht«, sagte Dove.
    »Ein bißchen«, gab ich zu. »Warum willst du meine Schwester sehen?« fragte ich ihn.
    »Na ja, um mich zu entschuldigen, unter anderem«, murmelte er, aber ihm konnte ich nie glauben; er hatte dieses eiskalte Lächeln in seinen eiskalten Augen. Er schien von meinen Muskeln nur wenig eingeschüchtert; er besaß eine Arroganz, die größer war als Herz und Verstand der meisten Menschen.
    »Wenn du wenigstens einmal auf ihre Briefe geantwortet hättest«, sagte ich ihm. »Du hättest dich jederzeit schriftlich entschuldigen können.«
    »Nun ja«, sagte er und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wie ein Spielmacher, der sich anschickt, den Ball zu übernehmen. »Nun ja, es ist irgendwie schwer, das alles auszudrücken«, sagte er, und fast hätte ich ihn auf der Stelle umgebracht. Ich konnte fast alles von ihm ertragen, nur keine Aufrichtigkeit - dieser aufrichtige Ton war fast mehr, als ich ertragen konnte. Ich spürte das Bedürfnis, ihn zu umarmen - und fester zuzudrücken als damals bei Arbeiter -, aber zum Glück für uns beide änderte er seinen Ton. Er fing an, die Geduld mit mir zu verlieren.
    »Jetzt hör mal gut zu«, sagte er. »Nach den Verjährungsfristen in diesem Land bin ich aus dem Schneider - alles verjährt, außer Mord. Und zwischen Vergewaltigung und Mord ist immer noch ein Unterschied, falls du das nicht weißt.«
    »Ein hauchdünner Unterschied«, sagte ich. Das nächste Taxi war fast unser Tod.
    »Chipper!« kreischte seine Freundin. »Soll ich die Polizei holen?«
    »Hör zu«, sagte Dove. »Sag Franny einfach, ich würde sie ganz gerne sehen - das ist alles. Ganz offensichtlich«, sagte er, und die Eiseskälte in seinen Augen war jetzt in seiner Stimme, »ganz offensichtlich möchte sie mich sehen. Schließlich hat sie mir oft genug geschrieben.« Fast beklagte er sich darüber, dachte ich - als hätten ihn die Briefe meiner Schwester gelangweilt!
    »Wenn du sie sehen willst, kannst du's ihr selber sagen«, ließ ich ihn wissen. »Du brauchst ihr nur eine Nachricht zu hinterlassen - überlaß die ganze Sache ihr: ob sie dich sehen will. Du kannst im Stanhope eine Nachricht hinterlassen«, sagte ich.
    »Im Stanhope?« sagte er. »Sie ist nur auf der Durchreise?«
    »Nein, sie lebt da«, sagte ich. »Wir sind eine Hotelfamilie«, sagte ich ihm. »Oder hast du das vergessen?«
    »Nein, nein«, lachte er, und ich sah ihm an, daß er dachte, das Stanhope sei ein großer Schritt vorwärts, nach dem Hotel New Hampshire - nach beiden Hotels New
    Hampshire, auch wenn er nur das erste gekannt hatte. »Aha«, sagte er, »Franny wohnt also im Stanhope.«
    »Das Stanhope gehört uns inzwischen«, sagte ich ihm. Ich habe keine Ahnung, warum ich log, aber ich mußte ihn irgendwie drankriegen. Er sah leicht verblüfft aus, und das war immerhin eine kleine Genugtuung; ein grüner Sportwagen fuhr so dicht an ihm vorbei, daß sein Schal in dem plötzlichen Fahrtwind flatterte. Seine Freundin wagte sich wieder auf die Seventh Avenue; sie näherte sich uns mit aller Vorsicht.
    »Chipper, bitte«, sagte sie leise.
    »Ist das das einzige Hotel, das euch gehört?« fragte mich Dove und versuchte, ganz gelassen zu bleiben.
    »Uns gehört halb Wien«, sagte ich ihm. »Und zwar die maßgebende Hälfte. Das Stanhope ist nur der Anfang

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