Das Hotel New Hampshire
zu sehen.
An diesem Abend, kurz vor Weihnachten 1964, ging ich also mühsam Schritt um Schritt die Central Park South entlang; ich begann über Susie den Bären nachzudenken, und dabei fiel mir noch eine Photographie von Freud -
Sigmund Freud - ein, die mir besonders gut gefiel. Auf diesem Bild ist Freud achtzig; drei Jahre später war er tot. Er sitzt an seinem Schreibtisch in der Berggasse 19; es ist 1936, und die Nazis würden ihn bald darauf zwingen, sein altes Arbeitszimmer in seiner alten Wohnung - und seine alte Stadt, Wien - aufzugeben. Auf dieser Photographie sitzt eine gestrenge Brille ernst auf dem genitalen Gebilde von Freuds Nase. Freud blickt nicht in die Kamera - er ist achtzig, und er hat nicht mehr viel Zeit; sein Blick gilt seiner Arbeit, er vergeudet seine Zeit nicht mit uns. Es gibt jedoch auf dieser Photographie jemanden, der uns anblickt. Es ist Freuds Hund, sein Chow-Chow namens Jo-fi. Ein Chow-Chow hat etwas von einem mutierten Löwen; und Freuds Chow-Chow hat den glasigen Blick von Hunden, die immer einfältig in die Kamera blicken. Kummer tat das auch immer; als er ausgestopft war, starrte er natürlich jedesmal in die Kamera. Und der kummervolle kleine Hund des alten Dr. Freud ist auf dieser Photographie, um uns zu sagen, was als nächstes geschehen wird; wir könnten den Kummer auch an der Zerbrechlichkeit all der Nippes erkennen, die Freud praktisch aus seinem Arbeitszimmer, aus der Berggasse 19 und aus Wien (der Stadt, die er haßte und die ihn haßte) verdrängen. Die Nazis hängten schließlich eine Hakenkreuzfahne an seine Tür; diese verdammte Stadt hatte ihn nie gemocht. Und am 4. Juni 1938 kam der zweiundachtzigj ährige Freud nach London; er hatte noch ein Jahr zu leben - in einem fremden Land. Unserem Freud blieb damals noch ein Sommer, ehe er Earl endgültig satt hatte; er kehrte zu einer Zeit nach Wien zurück, als all die verdrängten Selbstmörder aus den Tagen des anderen Freud zu Mördern wurden. Frank hat mir den Aufsatz eines Wiener Geschichtsprofessors gezeigt - eines sehr weisen Mannes namens Friedrich Heer. Und genau das sagt Heer über die Wiener Gesellschaft zur Zeit Freuds (und ich glaube, das könnte auch für die Wiener Zeit unseres Freud zutreffen): »Sie waren Selbstmörder, die bald zu Mördern werden sollten.« Es waren lauter Leute wie Fehlgeburt, nach Kräften bemüht, so zu werden wie Arbeiter; es waren lauter Leute wie Schraubenschlüssel, voll Bewunderung für einen Pornographen.
Sie waren bereit, die Anweisungen eines Pornographentraumes zu befolgen.
»Von Hitler ist bekannt«, belehrt Frank mich gern, »daß er vor der Syphilis eine irre Angst hatte. Darin liegt schon eine Ironie«, betont Frank in seiner nervtötenden Art, »denn schließlich kam Hitler aus einem Land, in dem die Prostitution schon immer gedieh.«
Sie gedieh bekanntlich auch in New York. Und an einem Winterabend stand ich an der Ecke Central Park South und Seventh Avenue und blickte ins Downtown-Dunkel; ich wußte, da unten waren die Huren. Mein eigenes Geschlecht brannte noch immer von Frannys engagierten Bemühungen, mich zu retten - uns beide zu retten -, und ich wußte nun endlich, daß ich vor ihnen sicher war; ich war von beiden Extremen geheilt, ich war sicher vor Franny und sicher vor den Huren.
Ein Auto ging an der Einmündung der Seventh Avenue in die Central Park South etwas zu schnell in die Kurve; es war nach Mitternacht, und außer diesem schnell fahrenden Auto war auf den beiden Straßen nichts zu sehen. Eine Menge Leute saßen in dem Auto; sie sangen ein Lied im Radio mit. Das Radio war so laut, daß ich einen Fetzen des Liedes deutlich hörte, obwohl die Fenster wegen der winterlichen Kälte zu waren. Es war kein Weihnachtslied, und ich fand das angesichts der Dekorationen in ganz New York irgendwie unpassend; doch Weihnachtsdekorationen sind auf eine Jahreszeit beschränkt, und das Lied, von dem ich nur einen Fetzen hörte, war einer jener allumfassend rührseligen Country-and-Western-Songs. Irgendeine abgedroschene, aber wahre Geschichte wurde auf abgedroschene, aber wahrheitsgemäße Art ausgedrückt. Seit jener Zeit warte ich darauf, dieses Lied wieder zu hören, aber immer wenn ich glaube, da ist es wieder, fällt mir irgend etwas auf, was doch nicht ganz stimmt. Franny zieht mich damit auf, daß sie sagt, ich müsse den Country-and-Western-Song mit dem Titel ›Vom Himmel trennt uns nur ein Schrittchen Sünde‹ gehört haben. Und damit würde ich mich auch
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