Das Hotel New Hampshire
tatsächlich zufriedengeben; fast jedes derartige Lied würde mir reichen.
Da war nur dieser Liedfetzen, die Weihnachtsdekorationen, das Winterwetter, meine schmerzenden Schamteile - und das herrliche Gefühl der Erleichterung darüber, daß ich nun frei war, daß ich nun mein Leben führen konnte -, und dann war der Wagen, der zu schnell fuhr, an mir vorbeigerast. Als ich auf die Seventh Avenue trat - als ich glaubte, ich könne sie gefahrlos überqueren -, blickte ich auf und sah das Pärchen auf mich zukommen. Sie gingen die Central Park South entlang, Richtung Plaza - von Westen nach Osten -, und es war wohl, wie mir später aufging, unvermeidlich, daß wir uns ausgerechnet am Abend der Erlösung für Franny und mich mitten auf der Seventh Avenue trafen. Sie waren ein leicht beschwipstes Pärchen, glaube ich - oder zumindest die junge Frau war beschwipst, und da sie sich auf den Mann stützte, schwankte auch er ein wenig. Die Frau war jünger als der Mann; 1964 hätten wir sie jedenfalls noch als Mädchen bezeichnet. Lachend hielt sie sich am Arm ihres älteren Freundes fest; er sah aus, als sei er in meinem Alter - tatsächlich war er ein bißchen älter. An diesem Abend des Jahres 1964 muß er Ende Zwanzig gewesen sein. Das Gelächter des Mädchens zersplitterte in der kalten Nachtluft mit dem spitzen Geräusch ganz dünner Eiszapfen, die von den Dachrinnen eines winterumschlossenen Hauses abfallen. Ich war natürlich ausgesprochen guter Stimmung, und obwohl das kalte, schneidende Lachen des Mädchens irgendwie zu sehr aus dem Kopf und zu wenig aus dem Bauch zu kommen schien - und obwohl meine Eier schmerzten und mein Schwanz brannte -, blickte ich zu diesem schönen Paar auf und lächelte.
Wir erkannten uns ohne Umschweife - der Mann und ich. Ich hatte die Qualitäten des Spielmachers in seinem Gesicht nie vergessen können, auch wenn ich ihn seit jenem Halloween nicht mehr gesehen hatte, seit der Begegnung damals auf dem Fußweg, den die Footballspieler immer benutzten - und den alle anderen wohlweislich den Footballspielern zur alleinigen Benutzung überließen. An manchen Tagen konnte ich ihn, wenn ich mit meinen Gewichten arbeitete, immer noch sagen hören: »He, Kleiner. Deine Schwester hat den hübschesten Arsch an dieser Schule. Bumst sie mit einem?«
»Klar, sie bumst mit mir«, hätte ich ihm an diesem Abend auf der Seventh Avenue sagen können. Aber ich sagte gar nichts zu ihm. Ich blieb einfach stehen und stellte mich vor ihn hin, bis ich sicher war, daß er mich erkannt hatte. Er hatte sich nicht verändert; er sah fast genau so aus, wie er immer ausgesehen hatte - für mich. Und obwohl ich glaubte, ich hätte mich verändert - ich wußte, das Gewichttraining hatte zumindest meinen Körper verändert -, müssen wohl Frannys ständige Briefe dafür gesorgt haben, daß unsere Familie in Chipper Doves Erinnerung (wenn schon nicht in seinem Herzen) einen festen Platz hatte.
Chipper Dove blieb ebenfalls stehen, mitten auf der Seventh Avenue. Nach ein, zwei Sekunden sagte er leise: »Sieh mal an, wen haben wir denn da.«
Alles ist ein Märchen.
Ich blickte Chipper Doves Freundin an und sagte: »Passen Sie auf, daß er Sie nicht vergewaltigt.«
Chipper Doves Freundin lachte - es war wieder dieses nervöse, überspannte Lachen, wie klirrendes Eis, wie zersplitternde Eiszapfen. Dove lachte ein bißchen mit ihr. Zu dritt standen wir nun mitten auf der Seventh Avenue; ein Taxi, das von der Central Park South kam, überfuhr uns beinahe, aber nur die Freundin schreckte zusammen - Chipper Dove und ich blieben reglos stehen.
»He, wir stehen mitten auf der Straße, oder habt ihr das noch nicht bemerkt«, sagte das Mädchen. Sie war wesentlich jünger als er, fiel mir auf. Sie verzog sich rasch auf die Ostseite der Seventh Avenue und wartete auf uns, aber wir rührten uns nicht.
»Ich hab mich immer über Frannys Briefe gefreut«, sagte Dove.
»Warum hast du ihr nie zurückgeschrieben?« fragte ich ihn.
»He!« schrie seine Freundin zu uns herüber, und das nächste Taxi, das downtown fuhr, hupte uns an und machte einen Bogen um uns.
»Ist Franny auch in New York?« fragte mich Chipper Dove.
In einem Märchen weiß man oft nicht, was die Leute wollen. Alles hatte sich verändert. Tatsache war, daß ich nicht wußte, ob Franny Chipper Dove sehen wollte oder nicht. Tatsache war, daß ich keine Ahnung hatte, was in den Briefen stand, die sie ihm geschrieben hatte.
»Ja, sie ist in der Stadt«, sagte ich
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