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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ihre Stadt, ihr einen Hinweis geben kann, einen Funken, um auch die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses auszuleuchten. Im Moment entfernt sich die Vergangenheit von Anna Heymes immer mehr, wird nach und nach durch vage Eindrücke ersetzt, verworrene Empfindungen, die mit ihrem Leben als Drogenschmugglerin zu tun haben. Bruchstücke eines düsteren Berufs ohne Anhaltspunkte, ohne das geringste persönliche Detail, das ihr ein kleines Zeichen geben könnte, mit dem sie ihre »Brüder« von früher wieder finden kann.
    Sie winkt nach einem Taxi und bittet den Chauffeur, auf gut Glück durch die Stadt zu kreuzen. Sie spricht ohne Akzent und ohne das geringste Zögern Türkisch. Diese Sprache sprudelte ihr stets über die Lippen, sobald sie sie brauchte - wie eine in ihrem Innersten verborgene Quelle. Aber warum denkt sie auf Französisch? Ist das eine Folge der psychischen Konditionierung? Nein, diese Vertrautheit muss es schon vor dieser Geschichte gegeben haben. Sie ist ein Teil ihrer Persönlichkeit, in ihrem Werdegang und ihrer Erziehung muss es diese seltsame Verpflanzung schon gegeben haben...
    Durch die Scheibe des Taxis betrachtet sie das Rot der türkischen Flagge mit der Mondsichel und dem goldenen Stern, die die Stadt markiert wie ein Wachssiegel; betrachtet das Blau der Mauern und der steinernen Monumente, das sich bräunlich verfärbt hat und Risse aufweist wegen der Luftverschmutzung - und schließlich ist da das Grün der Dächer und der Moscheekuppeln, das im Sonnenlicht zwischen jade- und smaragdgrün oszilliert.
    Das Taxi fährt dicht an einer Mauer entlang: Hatun caddesi, und Sema liest die Namen auf den Schildern: Aksaray, Kücük-pazar, Carsamba... Sie rufen einen vagen Widerhall in ihrem Bewusstsein, aber keine besondere Empfindung und keine bestimmte Erinnerung hervor.
    Und doch errät sie mehr denn je, dass nur wenig - ein Denkmal, ein Hinweisschild, der Name einer Straße - genügen würde, um den Treibsand in Bewegung zu setzen, die Blockade aufzuheben, die ihr Gedächtnis gefangen hält. Wie Wracks am Grund des Meeres, die man nur berühren muss, und schon schweben sie langsam an die Oberfläche...
    Der Chauffeur fragt: »Devam edelirn mi? Machen wir weiter?«
    »Evet. Ja.«
    Haseki, Nisanca, Yenikapi...
    Eine neue Zigarette.
    Brausender Verkehr, wogende Passanten, der Höhepunkt städtischen Treibens. Und doch wird alles beherrscht vom Eindruck einer Sanftheit. Der Frühling lässt seinen Schatten über all dem Getümmel erzittern. Blasses Licht scheint durch die verschmutzte Luft. Über Istanbul schwebt ein silbriger Glanz, eine Art grauer Patina, die stärker ist als alle Gewalttätigkeit. Selbst die Bäume haben etwas Abgenutztes, Ascheartiges, das sich ausbreitet und die Gemüter besänftigt...
    Plötzlich erregt ein Wort auf einem Plakat ihre Aufmerksamkeit. Ein paar Silben auf rotgoldenem Grund.
    »Bringen Sie mich nach Galatasaray«, weist sie den Chauffeur an.
    »Das Gymnasium?«
    »Ja, das Gymnasium. In Beyoglu.«

Kapitel 69
     
    Ein großer Platz am Rand des Taksim-Viertels. Banken, Fahnen, internationale Hotels. Der Fahrer hält am Beginn einer Fußgängerzone.
    »Zu Fuß sind Sie schneller«, erklärt er. »Gehen Sie den Istiklal caddesi entlang. Nach etwa einhundert Metern... «
    »Ich kenne mich aus.«
    Drei Minuten später erreicht Sema das Gitter des Gymnasiums, das eifersüchtig von dunklen Gärten abgeschirmt wird. Sie geht durch das Tor und tritt in einen richtigen Wald. Tannen, Zypressen, Orientplatanen, Linden: lebendige Säbel, filzige Farbtöne, schattige Mäuler... Hier und da ein Stück Rinde in Grau oder Schwarz, dann wieder ein Wipfel, Laubwerk, getrennt durch einen hellen Farbstrich - ein breites pastellfarbenes Lächeln. Oder trockenes Unterholz, beinahe blau, transparent wie Durchschlagpapier. Das gesamte Pflanzenspektrum breitet sich aus an diesem Ort.
    Jenseits der Bäume sieht sie gelbe Fassaden, umgeben von Sportanlagen und Basketballkörben: die Gebäude des Gymnasiums. Sema hält sich im Hintergrund, im Schatten des Laubs, und beobachtet alles. Die pollenfarbigen Mauern. Die Zementböden in neutraler Farbe. Das Monogramm des Gymnasiums - ein S, verschlungen mit einem G, Rot in Gold, auf den marineblauen Jacken, in denen die Schüler umherschlendern.
    Sie lauscht jedoch vor allem auf den Lärm, der sich erhebt. Es ist Mittag, Ende des Unterrichts - derselbe Klang auf allen Breitengraden: die Freude von Kindern, die aus der Schule in die Freiheit entlassen

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