Das Imperium der Woelfe
werden.
Es ist mehr als ein vertrautes Geräusch, es ist ein Appell, ein Versammlungssignal. Empfindungen umgeben sie plötzlich, schlingen sich um sie... Überwältigt von diesen Eindrücken, setzt sie sich auf eine Bank und lässt die Bilder der Vergangenheit auf sich einströmen.
Zuerst ihr Dorf im fernen Anatolien. Unter einem unendlich weiten, gnadenlosen Himmel stehen Baracken aus Lehm, dicht an den Berg geschmiegt. Zitternde Ebenen, hochgewachsenes Gras. Schafherden auf steil ansteigenden Hügeln, die schräg am Abhang entlanggehen, grau verfärbt wie schmutziges Papier. Schließlich sieht sie im Tal Männer, Frauen, Kinder, die leben wie durch Sonne und Kälte zerborstene Steine...
Später taucht ein Ausbildungslager auf - ein zweckentfremdeter Badeort, umgeben von Stacheldraht, irgendwo in der Gegend von Kayseri. Jeden Tag Indoktrinierung, Ausbildung, Training. Ganze Vormittage Lektüre des Buches Die neun Lichter von Alpaslan Türkes. Das Wiederkäuen nationalistischer Lehrsprüche, das Betrachten von Stummfilmen über die Geschichte der Türkei. Unterrichtsstunden über Grundlagen der Ballistik, den Unterschied zwischen detonierenden und abbrennenden Sprengkörpern. Schießen mit dem Sturmgewehr. Umgang mit Feuerwaffen...
Und plötzlich ist da das französische Gymnasium. Alles wird anders. Eine angenehme und feine Umgebung, die womöglich noch schlimmer ist. Sie gilt als Bauerntrampel. Das Mädchen aus den Bergen unter all den Söhnen aus guter Familie. Sie ist auch eine Fanatikerin. Eine Nationalistin, die sich an ihre türkische Identität klammert, an ihre Ideale, unter den bürgerlichen, links orientierten Schülern, die alle davon träumen, Europäer zu werden...
Hier in Galatasaray hat sie sich so sehr für das Französische begeistert, dass sie es im Geist zu ihrer eigentlichen Muttersprache gemacht hat. Sie hört noch, wie der Dialekt ihrer Kindheit, gestoßene, harte Silben, nach und nach durch neue Wörter ersetzt wird, durch Gedichte und Bücher, die noch jede kleinste Überlegung verfeinern, jede neue Idee charakterisieren. Damals ist ihre Welt buchstäblich französisch geworden.
Dann kommt die Zeit der Reisen. Das Opium. Die Anbauflächen im Iran, die in Terrassen oberhalb der Wüste liegen. Die Schachbretter aus Mohn in Afghanistan, die sich mit Gemüse und Weizenfeldern abwechseln. Sie sieht Grenzen ohne Namen und ohne Grenzstreifen. Ein Niemandsland aus Staub, mit Minen gepflastert, von wilden Schmugglern verhext. Sie erinnert sich an Kriege und Panzer, an die Stinger-Raketen - und an die afghanischen Rebellen, die mit dem Kopf eines sowjetischen Soldaten Fußball spielen.
Sie sieht auch Labors. Baracken mit stickiger Luft voller Männer und Frauen unter Leinenmasken. Weißer Staub und beißende Dämpfe; Morphin und Heroin... Der eigentliche Beruf beginnt.
Da wird das Gesicht plötzlich klar erkennbar.
Bisher hat ihr Gedächtnis nur in eine Richtung funktioniert. Die Gesichter haben immer die Rolle des Auslösers gespielt. Das Gesicht von Schiffer hat genügt, um sie an die letzten Monate ihrer Aktivitäten zu erinnern - die Drogen, die Flucht, das Versteck. Das Lächeln Azer Akarsas hat sie an die Einrichtungen und Versammlungen der Nationalisten erinnert, die Männer mit erhobener Faust, Zeigefinger und kleiner Finger in die Höhe gereckt, mit lauten Juh-Rufen oder dem Schrei: »Türkes basbug!« - und so wurde ihr ihre Identität als Wölfin wieder bewusst.
Doch jetzt im Park von Galatasaray vollzieht sich alles in umgekehrter Richtung. Aus ihren Erinnerungen entsteht eine Leitfigur, die jedes Bruchstück ihrer Erinnerung durchzieht... Zuerst ein tollpatschiges Kind in den frühen Jahren, dann eine täppische Jugendliche im französischen Gymnasium. Und später eine Schmugglerin: In den versteckten Labors lächelt ihr dieselbe dralle Gestalt in weißem Kittel entgegen.
Im Lauf der Zeit ist an ihrer Seite ein Kind mit ihr gemeinsam groß geworden, ein Blutsbruder, ein Grauer Wolf, der alles mit ihr geteilt hat. Jetzt, wo sie sich konzentriert, schwebt sein Gesicht deutlicher vor ihr. Mit Pausbacken und honigfarbenen Locken. Blaue Augen wie zwei Türkise inmitten der Wüstenkiesel.
Plötzlich kommt ihr ein Name in den Sinn: Kürsat Milihit.
Sie steht auf und beschließt, in die Schule hineinzugehen. Sie braucht eine Bestätigung.
Sema stellt sich dem Direktor als französische Journalistin vor und erklärt das Thema ihrer Reportage: frühere Schüler von Galatasaray, die in
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