Das Imperium der Woelfe
endlich atmen. Sie richtet den Blick zur Moschee hinauf: Die nassen Türme schimmern wie aus grüner Keramik, die Minarette sehen aus, als wollten sie gleich zu den Sternen fliegen.
Sema verweilt noch einige Sekunden bei dem Toten, ein Gefühl der Klarheit und Präzision stellt sich ein. Sie weiß jetzt, warum sie so gehandelt hat, warum sie mit den Drogen geflohen ist. Für die Freiheit natürlich.
Aber auch, um sich wegen eines sehr konkreten Vorfalls zu rächen. Bevor sie weitermacht, braucht sie Klarheit. Sie muss ein Krankenhaus finden. Und einen Gynäkologen.
Kapitel 71
Sie schreibt die ganze Nacht hindurch an einem zwölfseitigen Brief, adressiert an Mathilde Wilcrau, Rue Le Goff, Paris, 5. Arrondissement. Darin erklärt sie ihre Geschichte in allen Einzelheiten, erläutert die Geschichte ihrer Herkunft und ihres Berufes. Und die der letzten Lieferung.
Sie gibt auch Namen weiter. Kürsat Milihit. Azer Akarsa. Ismail Kudseyi. Sie stellt alle Namen wie Steine auf dem Schachbrett auf und beschreibt aufs Genaueste ihre Rolle und Position in diesem Spiel. Selma rekonstruiert jedes Teilstück des Freskos...
Sie schuldet Mathilde diese Erklärungen, die sie ihr in der Krypta auf dem Père-Lachaise versprochen hat. Vor allem aber geht es ihr darum, die Geschichte verständlich zu machen, in der die Psychiaterin vorbehaltlos ihr Leben riskiert hat.
Als sie auf das helle Hotelbriefpapier »Mathilde« schreibt, als sie mit ihrem Stift diesen Namen festhält, sagt sich Sema, dass sie vielleicht nie etwas so Festes in der Hand hatte wie diese wenigen Silben.
Sie zündet sich eine Zigarette an und nimmt sich Zeit zu überlegen. Mathilde Wilcrau. Eine große und kräftige Frau mit schwarzem Haar. Als sie ihr allzu rotes Lächeln das erste Mal sah, kam ihr ein Bild in den Sinn: Sie sah die Stiele des Klatschmohns vor sich, die sie einst entflammte, um ihre Farbe bewahren zu können.
Dieser Vergleich enthüllt erst heute, wo sie die Erinnerung an ihr früheres Leben wiedergefunden hat, seinen tiefer liegenden Sinn. Die Landschaften mit dem vielen Sand hatten - anders als sie annahm - nichts mit dem französischen Küstenstreifen des Landes zu tun, sondern mit der Wüste Anatoliens. Der Klatschmohn war in Wirklichkeit wilder Mohn - der Schatten des Opiums zeichnete sich ab... Sema spürte stets ein Zittern, eine mit Angst vermischte Erregung, wenn sie die Stiele anbrannte. Sie spürte, dass es einen geheimen, unerklärlichen Zusammenhang zwischen der schwarzen Flamme und dem farbigen Aufblühen der Blüten gab.
Dasselbe Geheimnis schimmert bei Mathilde Wilcrau hindurch. Eine verbrannte Region ihres Ichs verstärkt das kräftige Rot ihres Lächelns.
Selma beendet den Brief. Sie zögert einen Augenblick: Soll sie ihr mitteilen, was sie vor ein paar Stunden im Krankenhaus erfahren hat? Nein, das geht nur sie selbst etwas an. Sie unterschreibt und schiebt die Blätter in den Umschlag.
Vier Uhr auf dem Radiowecker ihres Zimmers.
Sie durchdenkt ein letztes Mal ihren Plan. »Du kannst nicht mit leeren Händen kommen«, hat Kürsat geagt. Weder Le Monde noch die Fernsehnachrichten haben die in der Krypta verstreuten Drogen erwähnt, somit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Azer Akarsa und Ismail Kudseyi nicht wissen, dass das Heroin verloren gegangen ist. So hat Sema theoretisch etwas in der Hand, worüber sie verhandeln kann...
Sie legt den Umschlag vor die Tür und geht ins Badezimmer. Sie lässt ein wenig Wasser ins Waschbecken laufen und nimmt die kleine Schachtel, die sie vorhin in einer Druckerei in Beylerbeyi gekauft hat. Sie gibt die Farbpigmente ins Becken und betrachtet die rötlichen Mäander, die blasser werden, hinabsinken und sich im Wasser zu einem braunen Schlamm verfestigen.
Ein paar Momente betrachtet sie sich im Spiegel. Das Gesicht zerschmettert, die Knochen gebrochen, die Haut zusammengenäht. Unter der sichtbaren Schönheit eine weitere Lüge...
Sie lächelt ihr Spiegelbild an und sagt leise: »Ich habe keine andere Wahl.«
Dann taucht sie vorsichtig den rechten Zeigefinger ins Henna.
Kapitel 72
Fünf Uhr, der Bahnhof von Haydarpasa ist Ausgangspunkt und Ankunftsort für Eisenbahn- und Schiffslinien. Alles ist genau wie in ihrer Erinnerung. Das U-förmige Hauptgebäude, von zwei großen Türmen eingerahmt, öffnet sich zur Meerenge hin wie zu einer Umarmung - eine Einladung an die weite See. Darum herum die Deiche. Achsen aus Stein, zwischen denen sich ein Labyrinth aus Wasser
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