Das Imperium der Woelfe
dehnt. Über dem zweiten Deich, am Ende der Mole, erhebt sich ein Leuchtturm. Ein einsam dastehender Turm, und es sieht aus, als sei er auf die Kanäle gebaut.
Um diese Zeit ist alles dunkel, kalt, ohne Licht. Nur ein schwacher Lichtschimmer flackert im Bahnhof, und durch die matten Scheiben fällt ein rötlicher, zögernder Rest Helligkeit.
Der Kiosk der »Iskele« - am Landungskai - leuchtet ebenso, er spiegelt sich als blau-braun-roter Farbfleck im Wasser, schwächer noch, fast violett.
Mit hochgezogenen Schultern und aufgerichtetem Kragen geht Sema an dem Gebäude entlang und die Uferböschung hinauf. Das düstere Ambiente kommt ihr gerade recht, sie hat sich auf diese leblose, stille, wie von Raureif erstarrte Wüste eingestellt. Sie geht zum Steg der Ausflugsboote, Tauwerk und Segel verfolgen sie mit ihrem endlosen Geklirr.
Sema betrachtet jedes Boot, jeden Nachen. Schließlich entdeckt sie ein Boot, dessen Besitzer mit angezogenen Beinen unter einer Plane schläft. Sie weckt ihn und beginnt sogleich zu verhandeln. Verstört akzeptiert der Mann die vorgeschlagene Summe, ein Vermögen. Sie versichert ihm, dass sie nicht über den zweiten Deich hinausfahren wird und dass er seinem Schiff überallhin mit den Augen folgen kann. Der Seemann ist einverstanden, lässt ohne ein Wort den Motor an und geht an Land.
Sema nimmt das Ruder. Sie fährt am ersten Deich entlang, um das äußerste Ende der Mole bis zum Leuchtturm. Kein Laut um sie herum. In der Dunkelheit, weit in der Ferne, zeichnet sich die erleuchtete Brücke eines Frachtschiffs ab. Unter dem Licht der Scheinwerfer bewegen sich Schatten, von Gischt besprüht. Einen kurzen Augenblick fühlt sie sich als Komplizin, solidarisch mit diesen vergoldeten Gespenstern.
Sie legt bei den Felsen an, vertäut ihr Boot und geht zum Leuchtturm. Die Tür bricht sie mühelos auf. Innen ist es eng, eiskalt, eine menschenfeindliche Atmosphäre. Der Leuchtturm funktioniert automatisch, er scheint niemanden zu brauchen. An der Spitze des Turms der riesige Scheinwerfer, der sich langsam mit einem stöhnenden Geräusch um seine Achse dreht.
Sema knipst die Taschenlampe an. Die runde Mauer, ganz in der Nähe, ist schmutzig und feucht. Der Boden voller Pfützen. Eine Wendeltreppe aus Eisen nimmt den ganzen Raum ein. Unter ihren Füßen hört Sema das Rauschen der Fluten. Sie denkt an ein steinernes Fragezeichen am Rand der Welt. Ein Ort größter Einsamkeit. Die ideale Stelle.
Sie nimmt Kürsats Telefon und ruft Azer Akarsas Nummer an. Es klingelt. Jemand nimmt ab, dabei ist es kaum fünf Uhr... Auf Türkisch sagt sie: »Hier ist Sema.«
Weiterhin Schweigen. Dann ertönt Azer Akarsas Stimme wie aus nächster Nähe: »Wo bist du?«
»In Istanbul.«
»Was schlägst du vor?«
»Ein Treffen, nur zu zweit, auf neutralem Gebiet.«
»Wo?«
»Am Bahnhof von Haydarpasa. Auf dem zweiten Deich steht ein Leuchtturm.«
»Wann?«
»Jetzt. Du kommst allein. Mit einem Boot.«
Ein Lachen in der Stimme: »Um wie ein Hase abgeknallt zu werden?«
»Das würde meine Probleme nicht lösen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du sie lösen könntest.«
»Du musst wissen, ob du kommst.«
»Wo ist Kürsat?«
Die Nummer muss auf seinem Display zu sehen sein. Warum soll sie lügen?
»Er ist tot. Ich warte auf dich. Haydarpasa. Allein. Im Ruderboot.«
Sie legt auf und blickt durch das vergitterte Fenster nach draußen. Der Seehafen wird allmählich wach. Langsamer Verkehr setzt sich im Morgengrauen in Bewegung. Ein Schiff gleitet die Schienen der Aufschlepprampe hinauf, verlässt das Wasser und verschwindet unter den Bögen des erleuchteten Docks.
Besser könnte ihr Beobachtungsposten nicht sein. Von hier aus kann sie den Bahnhof und die Anlegestellen, den Kai und den ersten Deich beobachten: Unmöglich, in Deckung hierher zu kommen.
Sie setzt sich auf die Stufen und zittert vor Kälte.
Zigarette.
Ihre Gedanken kommen in Bewegung, eine Erinnerung taucht auf, einfach so, ohne besonderen Grund. Sie spürt die Wärme von Gips auf der Haut, spürt die Gaze auf den verwundeten Stellen und das unerträgliche Jucken unter dem Verband. Sie erinnert sich an ihre von Beruhigungsmitteln betäubte Genesung zwischen Schlafen und Wachen.
Und dann der Schrecken, als sie ihr neues Gesicht sah, angeschwollen, als würde es jeden Moment platzen, von Blutergüssen blau verfärbt, mit getrocknetem Blut überzogen ... Auch dafür müssen sie bezahlen.
Es ist Viertel nach fünf, die Kälte beißt
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