Das Imperium der Woelfe
sich in ihren Körper - fast wie ein Brennen. Sema steht auf, sie tritt von einem Fuß auf den anderen und kämpft gegen die Müdigkeit an. Die Erinnerungen an ihre Operation führten sie zu ihrer letzten Entdeckung zurück, ein paar Stunden zuvor im Zentralkrankenhaus von Istanbul. Es war im Grunde nur eine Bestätigung. Sie erinnert sich jetzt wieder genau an den Tag im März in London. Sie hatte eine Darmentzündung gehabt und hatte sich röntgen lassen - und die Wahrheit akzeptieren müssen.
Wie hatten sie ihr das antun können? Sie auf immer zu verstümmeln?
Deshalb war sie geflohen. Und deshalb wird sie sie alle töten.
Wenig später dringt ihr die Kälte bis in die Knochen. Ihr Blut fließt in die lebenswichtigen Organe und überlässt nach und nach die Extremitäten dem Erfrieren und dem eisigen Tod. In ein paar Minuten wird sie gelähmt sein. Mit einem mechanischen Schritt geht sie zur Tür. Sie verlässt den Leuchtturm, die Glieder ganz steif gefroren, und versucht, sich die Beine auf dem Deich zu vertreten. Als Wärmequelle kommt nur ihr eigenes Blut in Frage, sie muss es in Bewegung bringen, damit es sich wieder im ganzen Körper verteilt...
In der Ferne ertönen Stimmen. Sema blickt auf. Fischer fahren am ersten Deich entlang. Damit hatte sie nicht gerechnet, jedenfalls nicht so früh.
In der Dunkelheit kann sie das Kielwasser der Boote erkennen. Ob es wirklich Fischer sind?
Sie blickt auf die Uhr: viertel vor sechs. In ein paar Minuten wird sie zurückfahren. Sie kann nicht länger auf Azer Akarsa warten. Sie weiß instinktiv, dass er, ganz gleich wo er in Istanbul wohnt, nur eine halbe Stunde braucht, um zum Bahnhof zu gelangen. Wenn er mehr Zeit benötigt, dann deshalb, weil er etwas organisiert; weil er eine Falle vorbereitet.
Ein Plätschern. In der Dunkelheit sind die Kielspuren eines Bootes zu erkennen. Es fährt am ersten Deich vorbei. Eine gebeugte Gestalt an den Rudern. Langsame, weit ausholende, ausdauernde Bewegungen. Ein Mondstrahl fällt auf die Lederschultern. Schließlich erreicht das Boot den Felsen.
Er steht auf, nimmt die Leine. Die Bewegungen und Geräusche sind so normal, dass sie fast unwirklich erscheinen. Sema kann nicht glauben, dass der Mann, der nur dafür lebt, sie zu töten, zwei Meter von ihr entfernt ist. Trotz des wenigen Lichts erkennt sie seine Lederjacke, olivfarben und abgewetzt, seinen breiten Schal, sein struppiges Haar... Als er sich nach vorne beugt, um ihr das Tau zuzuwerfen, sieht sie sogar für ein paar Sekunden das violette Leuchten in seinen Augen.
Sie fängt die Leine auf und bindet sie an ihrer eigenen fest. Azer will gerade den Fuß an Land setzen, als Sema ihn mit gezückter Glock aufhält. »Die Plane«, sagt sie leise.
Er wirft einen Blick auf das Segeltuch in seinem Boot.
»Heb sie hoch!«
Er gehorcht. Der Boden des Boots ist leer.
»Komm näher. Ganz langsam.«
Sie tritt zurück, damit er auf die Mole klettern kann. Mit einer Geste fordert sie ihn auf, die Hände hochzuheben. Mit der Linken durchsucht sie ihn: keine Waffen.
»Ich halte mich an die Spielregeln«, sagt er leise.
Sie schiebt ihn bis zum Türrahmen und folgt ihm. Kaum ist sie eingetreten, sitzt er schon auf der Eisentreppe.
Er hält eine durchsichtige Tüte in der Hand: »Schokolade?«
Sema antwortet nicht. Er nimmt sich ein Stück und schiebt es in den Mund.
»Diabetes«, sagt er entschuldigend. »Durch die Insulinbehandlung bin ich manchmal unterzuckert. Unmöglich, mich richtig einzustellen. Mehrmals in der Woche habe ich starken Blutzuckermangel, der bei Erregung noch schlimmer wird. Dann brauche ich sofort Zucker.«
Das Zellophanpapier leuchtet in seinen Fingern. Sema denkt an die Maison du Chocolat in Paris, an Clothilde. Eine andere Welt.
»In Istanbul kaufe ich mir immer Mandelcreme mit Kakao bestäubt. Die Spezialität eines Konditors in Beyoglu. In Paris habe ich dann Jikola entdeckt... «
Er stellt die Tüte vorsichtig auf das Eisengitter. Gespielt oder echt, seine Gelassenheit ist beeindruckend. Der Leuchtturm füllt sich langsam mit blauem Blei. Der Tag bricht allmählich an, doch die Drehmaschine, hoch oben im Turm gelegen, ächzt unaufhörlich.
»Ohne diese Schokolade hätte ich dich nie wieder gefunden«, fügt er hinzu.
»Du hast mich nicht wieder gefunden.«
Lächeln. Wieder gleitet seine Hand in die Jacke. Als Sema ihre Waffe auf Azer richtet, bewegt sich die Hand langsamer und zieht ein Schwarz-Weiß-Foto heraus. Eine einfache Momentaufnahme:
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