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Das Impressum

Das Impressum

Titel: Das Impressum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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vorbeiführte, als vielmehr auf der Verbindungslinie zwischen Heinrich Heines Berlin und Gerhart Hauptmanns Hiddensee, auf einem Kulturpfad durch eine Großlandschaft, die sich von den Geburtsstätten Heinrich von Kleists im Osten und Fontanes im Westen bis zum nördlichen Rügen Ernst Moritz Arndts erstreckte und Heimat Fritz Reuters und Johann Heinrich Voßens gewesen war, und linker Hand lag Tucholskys Rheinsberg und zur Rechten Hans Falladas Knast, und Güstrow war nicht fern mit dem Barlach-Haus, und nach Neustrelitz fuhren sie nur hinein, um eine Runde um Engelbert Humperdincks letzte Wohnung zu drehen, und David dachte, Engelbert Humperdinck, mein Gott, wie mag das in baschkirischen Ohren klingen?
    Neben seinen kulturgeographischen Anmerkungen über die Künstlerpersönlichkeiten des von ihnen durchmessenen Territoriums lieferte Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow seinemmachorkaverzehrenden Fahrer auf russisch und dessen unerwünschtem Fahrgast auf deutsch Charakterbilder von Freunden und Genossen, die man zwar ungestraft Deutsche, aber keineswegs ungestraft deutsche Schweinehunde nennen durfte.
    Von Johanna Müntzer fertigte er ein ausladendes Gemälde an, und es zeigte dieses eine Person von Herzensgüte, Prinzipienstärke, Gedankenmut und, was David verwirrte, humoristischer Sinnenfreude. Gedankenmut, das mochte sein, und Prinzipienstärke, das war gewiß, aber Herzensgüte, na, und humoristische Sinnenfreude gar – da kam David nicht mehr mit, und wenn er sich auch sagte, daß der russische Major vornehmlich um das Deutschenverständnis des baschkirischen Rauchers bemüht war, so hielt er soviel Schönmalerei nun doch für unerlaubt. Aber ausgerechnet an diesem Punkt schien Spiridonow bei seinem Fahrer durchzudringen; der nickte mehrmals beifällig, und zweimal stieß er mit dem Machorkanebel etwas aus, was sicher ein baschkirisches Gelächter war. Wenn das wirklich Johanna-Müntzer-Geschichten waren, die hier in zwei Sprachen zum besten gegeben wurden, so hatten sie zweifachen Effekt: Sie vermittelten dem jungen Mann am Steuer ein neues Deutschenbild und dem jungen Mann im Wagensitz hinter ihm ein völlig neues Bild der Johanna Müntzer; sie waren so farbig und saftig, daß ihr Erzähler, selber noch einmal von der Erinnerung begeistert, nach ihren Pointen mehrfach in den bewundernden Ruf ausbrach: »Fritze Andermann, ach, Fritze Andermann!«
    Dann, als sie durch die Bruch-und-Sumpf-Landschaft der Müritz fuhren, kam Wassilij Wassiljewitsch auf einen anderen Deutschen, der ebenfalls nicht in die Kategorie Schweinehunde gehörte, wenngleich er einen katastrophalen Fehler zu haben schien; was für einen, war für David noch nicht zu erfahren, hörbar war nur, daß da etwas war, denn hörbar war an verschiedenen Stellen inmitten der Lobrede des Majors sein Stöhnen, gepreßt aus Wut und Qual, ein nun wieder unzweifelhaft fluchendes Stöhnen: »Ach, Fritze Andermann!«
    Es handelte sich bei dem Deutschen, auf den der baschkirische Steuermann von seinem Vorgesetzten verwiesen wurde, offenbar um den Bürgermeister oder den Parteisekretär jenes Ortes, dem sich der Wagen näherte, und in diesem David, der immer noch nicht wußte, wo dieser Ort gelegen war, und auch nicht, was seiner dann dort harren mochte – es handelte sich vermutlich um einen deutschen Funktionär jener Stadt, deren sowjetischer Kommandant der Major Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow war. Nach den Worten Spiridonows war der erste deutsche Mann am Ort ein Kerl ohne Fehl, bis auf den einen, unbenannten. Ein Mensch mit Löwenmut und Bärenkraft und Fuchsesschläue. Einer von denen, die gekämpft hatten, an der Ruhr und im Zuchthaus Brandenburg, am Wedding und in Oranienburg. Der Sohn eines hessischen Kupferschmieds, ein Bergmann, ein KPD-Funktionär, ein Gestapo-Häftling, einer von jenen, die sich auf dem Transport, der aus dem Lager an der Havel auf das Todesschiff in der Ostsee führen sollte, von der SS befreit hatten, einer der hängengeblieben war in Mecklenburg, hängengeblieben an der Arbeit dort.
    Als Wassilij Wassiljewitsch Spiridonow seinem Fahrer von diesem Mann erzählte, erwachte in David leise das Gefühl, daß er seit langem mit Bedacht in den Schlaf getrieben, ja mit wütender Anstrengung fast erstickt hatte; der Gedanke regte sich wieder, den er gegen manch besseres Wissen und entgegen dem Widerspruch, der in der Erinnerung an seinen eigenen Vater steckte, für unerlaubt erklärt hatte, trotz des Umgangs mit Johanna Müntzer

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