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Dutzend Radfahrer, das war alles, und vorher war es auch nicht viel mehr gewesen.
»Na und?« sagte der Wachtmeister. »Meinen Sie, das bleibt so? Sie müssen mal ein bißchen vorausdenken. Wir haben nämlich jetzt den Frieden! Jetzt kommt wieder Arbeit her, und da kommen auch wieder Autos her und Motorräder, und jeder Mensch wird ein Fahrrad haben. Und mehr Kinder kommen auch wieder auf die Straße. Und die haben auch mal wieder Bälle. Und die Leute schaffen sich wieder Hunde an. Und wenn sie erst mal satt sind, gehen sie wieder spazieren. Und die Scheißstraßenbahn, sechs Linien hier rüber, und dann kaufen die Leute ein und können nicht über die Pakete rübergucken. Und die Besoffenen kriegen wir auch zurück. Das ist der Frieden, Kollege, und ich bin sehr für ihn, aber ich sehe da Probleme, und wenn wir uns auf die heute nicht einrichten, fressen sie uns morgen auf. Ich bin mit einem in Esterwege gewesen, der war da einer von den Besten. Jeden Morgen hat er gesagt: Nun wollen wir mal wieder sehen, wer wen? Bringe ich den Tag rum, oder bringt mich der Tag um? Diesen Wettkampf hat er durchgehalten; den hat auch nicht der aasigste Tag geschafft. Aber jetzt? Jetzt kann er nur noch im Augenblick denken. Ich weiß nicht, ob wir im Kopf so eine Extraecke für Erwartungenund Pläne oder Hoffnungen haben, aber etwas Ähnliches wird es wohl sein, und im Kopf von dem Mann, von dem ich spreche, ist diese Ecke zugeschüttet. Bei dem ist der Zukunftsfühler kaputt wie bei anderen Leuten das Gehör. Das ist furchtbar. Und was sieht man daraus? Daß man sich nicht bloß auf den Augenblick einrichten darf, meine ich. Dann wird man mit dem vielleicht fertig, aber mit dem nächsten schon nicht mehr. Deshalb predige ich: auch jetzt Verkehrsdisziplin, weil wir nämlich einen Verkehr bestimmt wieder kriegen und weil wir alle auf dem Friedhof landen, wenn wir so weiterlottern. Und wenn ich Sie das nächste Mal sehe, lieber Kollege, möchte ich, daß die Handbremse an Ihrem Rad in Ordnung ist. Wiedersehn!«
Sie sahen sich noch öfter wieder, David und der Genosse Reitzig. Der wurde nicht wieder Maurer, und auch Bürgermeister wurde er nicht; der blieb in der Uniform der Polizei, und einmal in der Mitte der sechziger Jahre hielt er im Bezirksaktiv der Partei eine Rede, und in der ging es um die verkehrspolizeilichen Aspekte bei der Neugestaltung des Alexanderplatzes, und plötzlich sprang er heraus aus dem Redestil, der bei solchen Zusammenkünften fast verbindlich war, und sprach von Herzenswünschen, und einer dieser Wünsche war, die Berliner möchten zu höherer Verkehrsdisziplin sich endlich finden, denn sonst, sagte der Genosse Reitzig, landeten wir übermorgen alle auf dem Friedhof, weil nämlich in absehbarer Zeit jeder Mensch ein Auto haben werde, und Untertunnelung und Stadtautobahn und Hochstraßen, das sei ganz in Ordnung, das gehöre eben auch zum Sozialismus, und für den sei er sehr, aber er sähe da auch Probleme, und richteten wir uns nicht heute auf die ein, so fräßen sie uns morgen.
David war ein wenig enttäuscht, als der Genosse Reitzig nicht auch noch von jenem Sinnesorgan sprach, von dessen Vorhandensein in einer Extraecke des Kopfes er selbst fest überzeugt war seit der frühen Begegnung mit dem Wachtmeister am Alexanderplatz; er jedenfalls glaubte so sehrdaran, daß er sich oft genug zu dem etwas lächerlichen und auch immer belächelten Appell an die Teilnehmer der Redaktionskonferenz hinreißen ließ: »Rührt gefälligst eure Zukunftsfühler!«
Der Ausdruck paßte selbst Penthesilea nicht; sie strich ihn aus Davids Rapport von der Umfrage, und ihr Argument war, es helfe dem Menschen nicht, wenn er sich für alle Nöte ein neues Organ erfinde, er müsse mit dem auskommen, was er habe, dies allerdings gelte es auszubilden zu höchster Vollkommenheit; aber Extraecken, nein, und Extrafühler, nein, von da sei es nicht weit bis zu Extranasen und den Extraaugen bei Picasso, und dieses Extrem auf der einen Seite fordere das Extrem auf der anderen nachgerade heraus und führe, um einmal bei der Kunst zu bleiben, über kurz oder lang zu Archipenko und dessen Entkörperung der Skulptur, zu Skulptomalerei und Bildmaschine und einem Menschenbild aus nur noch geometrischen Figuren, und Bertram Müntzer, ihr Mann, habe bitter dafür zahlen müssen, daß er den Verlockungen Archipenkos aufgesessen; nein, Zukunftsfühler und Extraecken seien keine zulässigen Ausdrücke für die Neue Berliner Rundschau, aber
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