Das Insekt
Handrücken über den Mund.
»Du siehst anders aus als sonst. Hast einen anderen Lidschatten, oder so was?«
»Nö, Midnight Caress, wie immer.«
»Wer denkt sich eigentlich so einen Quatsch aus, hä? Midnight Caress!«
Bonnie schöpfte sich Salat auf den Teller. Sie dachte daran, wie Ralph im Morgengrauen seine Hand nach ihr ausgestreckt und sanft ihre Brust umfasst hatte. »Gibt’s noch Bohnen?«, fragte Ray. »Klar«, sagte Bonnie. »Für dich auch noch, Duke?«
Schon wieder putzen
Am Montag rissen sie als Erstes die orangefarbenen Vorhänge herunter und öffneten die Fenster weit, um den Blutgeruch loszuwerden. Bonnie und Esmeralda trugen ihre gelben Schutzanzüge. Sie schleppten gemeinsam die Matratzen hinaus und warfen sie auf die Ladefläche des Pick-ups. Bonnie deckte sie mit den Vorhängen zu.
Als sie die Betten von der Wand wegzogen, sahen sie, dass die grässlichen Schlieren bis runter zum Boden gingen. Eine undefinierbare Masse hatte sich in der Ecke gesammelt und wucherte vor fetten Maden.
Esmeralda holte den Spezialstaubsauger. Die Maden machten ein sanft klopfendes Geräusch, als sie durch das Staubsaugerrohr in den Beutel gesogen wurden. Es klang fast wie Sommerregen auf einer Fensterbank.
»Wie war’s in Pasadena?«, fragte Esmeralda.
»Gut. War ganz gut.«
Auf Händen und Knien besprühte Bonnie den rechteckigen Fleck auf dem Teppich. Sie versuchte den Gedanken daran, was sie da gerade zu entfernen versuchte, zu verdrängen, aber das Grauen kam plötzlich über sie wie eine eiskalte Dusche. Sie stand auf. Sie musste. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen.
»Was ist los, Bonnie?«
»Dan Munoz hat gesagt…«
»Was hat Dan Munoz gesagt?«
»Dan Munoz hat gesagt, dass er die Kiste angenagt hat.«
»Wer? Wovon redest du?«
»Der kleine Junge in der Kiste. Bevor er verhungert ist, hat er versucht, die Kiste zu essen.«
»He, du siehst wirklich nicht besonders gut aus. Geh doch ein bisschen an die frische Luft.«
»Nein, Ich… Es geht schon.«
»Nein, es geht nicht. Du bist ja weiß wie ein Laken. Geh schon, ich sauge hier noch fertig.«
Bonnie atmete zwei-, dreimal tief ein und aus, aber sie schwankte immer noch und wäre beinahe umgefallen. Außerdem schwitzte sie. Sie schwitzte immer, wenn sie kurz vor ihrer Periode war.
»Es geht bestimmt gleich wieder. Nur ein paar Minuten. Wahrscheinlich liegt’s daran, dass ich kein Frühstück hatte.«
»Soll ich dir helfen?«
»Alles klar. Alles klar. Mach du ruhig weiter.«
Sie ging nach draußen. Es war heiß, aber eine Brise kam vom Meer und trocknete den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie stieg in ihren Wagen, öffnete die 7-up-Kühlbox und holte eine Cola-Light heraus. Sie nahm einen großen Schluck, der sofort durch ihre Nase wieder zurückkam.
Nie zuvor hatte sie sich so schlecht bei ihrer Arbeit gefühlt. Nicht einmal, als sie damals die Krippe reinigen musste, in der zwei Monate lang tote Babys gelegen hatten. Ihre Hände zitterten. Sie sah ihre bleichen, blutleeren Lippen im Rückspiegel. »Ganz ruhig«, sagte sie laut. »Zähl einfach langsam bis zehn und denk an gar nichts.«
Fünf Minuten später ging es ihr schon etwas besser. Sie stieg aus dem Wagen und ging zurück zum Haus. Ein kleiner Junge mit rosa gestreiftem T-Shirt und hellbraunen Haaren kam auf Bonnie zugelaufen und blinzelte sie gegen die Sonne an.
»Ist das ein Astronautenanzug?«
»Nein… der Anzug schützt mich vor Bazillen und so.«
»Da drin sind Leute gestorben.«
»Ich weiß.«
»Auch ein kleiner Junge.«
»Ja. Das ist sehr traurig.«
»Ist er noch da drin?«
»Nein. Jetzt ist er im Himmel.«
»Man betet, wenn Leute sterben.«
»Ja. Du kannst doch sicher beten, oder?«
»Da war ein Geräusch in dem Haus.«
»Es ist alles vorbei. Denk am besten gar nicht dran.«
Der Junge formte seine Hände zu Krallen und riss die Augen auf wie ein böser Kobold. »Das klang wie Grraaarrrhhhhl«
»Das war sicher ziemlich gruselig.«
»Ich hab noch nie so was Gruseliges gehört«, sagte der Junge. »So GrrraaaaaarrrrrhhhhhM«
Aus dem Nachbarhaus trat eine junge rothaarige Frau und rief: »Tyler! Was machst du denn da? Komm jetzt bitte sofort rein!«
Sie sah Bonnie misstrauisch an und blieb demonstrativ so lange in der Tür stehen, bis der Junge hinter ihr im Haus verschwunden war. Bonnie kannte die Reaktion. Niemand wollte etwas mit dem Tod zu tun haben, nicht einmal mit denen, die seine Spuren beseitigten.
Esmeralda
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